Strategische Herausforderung

NEW BUSINESS Guides - AUTOMATION GUIDE 2017
Industrie 4.0 ist zum Top-Thema in den Chefetagen geworden und stellt viele Manager vor zukunftsent­scheidende Fragen. © Freepik

Industrie 4.0 hält Einzug in die Chefetagen

Stolpersteine im Transformationsprozess der vierten industriellen Revolution sind meist nicht technischer, sondern vielmehr organisatorischer Natur. Dadurch rücken geeignete Unternehmensstrategien und Managementkonzepte zunehmend in den Mittelpunkt.

Wie weit sind Österreichs produzierende Unternehmen bei der Digitalisierung ihrer Prozesskette? Dieser Frage ging ein Team der TU Wien in seiner Studie „Supply Chain 4.0“ auf den Grund. Erstmal präsentiert und diskutiert wurde diese im Rahmen des Executive-Formats „Chefsache Industrie 4.0“ im Technologie­zentrum aspern IQ in Wien. Die Ergebnisse der Unter­suchungen zeigen, dass es vielen Betrieben an einer Sache noch besonders fehlt: dem Masterplan für Digitalisierung.
„Obwohl durchschnittlich 86 Prozent der befragten Unternehmen ihre IT-Budgets erhöht haben, hat nur etwa die Hälfte davon einen konkreten Digitalisierungsplan. Das heißt, dass viele Unternehmen scheinbar planlos in ihre IT investieren“, fasst Friedrich Bleicher, Institutsvorstand an der TU Wien für Fertigungstechnik und Hochleistungslasertechnik, die Ergebnisse der Studie zusammen. Daraus kann man schließen, dass im Prinzip jedem zweiten Betrieb eine gesamtheit­liche Digitalisierungsstrategie fehlt. Ein weiteres Hauptproblem ortet Bleicher außerdem in der mangelnden Bereitschaft, vor allem Prozess- und Maschinendaten mit anliefernden Unternehmen zu teilen. Diese Daten stellen jedoch eine Grundlage für Ansätze wie Predictive Analytics und somit eine optimale Lieferkette dar. Besonders KMU – welche in der Praxis oftmals als Zu­lieferbetriebe für Großunternehmen agieren – nutzen industrielle Informationssysteme (wie etwa ERPs) kaum oder ineffektiv: Trotz der Tatsache, dass derartige Programme schon seit 20 bis 30 Jahren existieren, verwenden beispielsweise aktuell noch 40 Prozent der an der Studie teilnehmenden Unternehmen Microsoft Excel für ihre Absatz­planung. Insgesamt orten die Studienleiter dementsprechend einen relativ großen Aufhol­bedarf in Sachen gezieltes Investment in IT-Infrastruktur sowie Integration der Lieferanten in die Prozessketten.
„Obwohl das Bewusstsein für die Relevanz einer digitalen Lieferkette bei der Mehrheit der Unternehmen durchaus vorhanden ist, wurde es bis dato offenbar versäumt, die richtigen Maßnahmen dafür zu setzen. Aktuell sind vor allem viele Zu­lieferbetriebe noch nicht bereit für die Vision Industrie 4.0 beziehungsweise der digitalen Transforma­tion“, analysiert Rudolf Melzer, Initiator der Event­reihe „Chefsache Industrie 4.0“, die Resul­tate der Studie, an der namhafte Industriebetriebe wie Magna, VOEST, Palfinger und Bossard ­teilnahmen.

C-Teile: bis zu 40 Prozent Kostenersparnis
Welches Sparpotenzial eine funktionierende Liefer­kette mit sich bringen kann, stellte Urs ­Güttinger, Leiter der Smart Factory Logistics der Schweizer Bossard-Gruppe, anhand eines anschaulichen Praxisfalls dar. „Fast 85 Prozent der Kosten, die eine Schraube beim Besteller verursacht, lassen sich logistischen Prozessen zurechnen. Diesen gehen wir nach eingehender Prozessanalyse beim Kunden mit unseren intelligenten Systemlösungen an den Kragen“, erklärt Güttinger. Einen Teil dieser Lösungen stellt das Smart-Bin-Flex-System des weltweit agierenden Verbindungstechnik­konzerns dar. Der Smart Bin, ein mit einer Waage verbundener Kleinteilbehälter, löst bei Unterschreitung eines angegebenen Füllgewichts vollautomatisch einen Bestellvorgang aus. Sobald die Lieferung beim Kunden eintrifft und der entsprechende Behälter befüllt ist, sendet dieser den Abschluss des Bestellvorgangs zurück an Bossard. Überwacht werden kann der ganze Prozess zudem mittels App, Lieferzeitpunkt inklusive. „Beim vorgestellten Fall konnten wir durch die ­komplette Übernahme und Automatisierung des C-Teile-Managements die Zahl der manuellen Bestell­vorgänge von 1.600 auf null senken. Die damit verbundenen Rechnungen wurden auf zwölf Monatsrechnungen minimiert, um nur zwei Vorteile für den Kunden zu nennen“, rundet Kai von Buddenbrock, General Manager bei Bossard ­Austria, die Ausführungen ab.

Erkennen von Megatrends auch in Zukunft entscheidend
Beide Vorträge wurden bei einer abschließenden Führung durch die Pilotfabrik der TU Wien, welche ebenfalls im Technologiezentrum aspern IQ untergebracht ist, weiterführend diskutiert. Den Anstoß gab Josef Kranawetter, Geschäftsführer von Weidmüller Österreich, mit der Feststellung, dass Datenschutz und -sicherheit auch beim Supply-Chain-Management kein zu vernachlässigendes Thema sei. Ergänzt wurde sein Beitrag von Palfinger-Vorstand Martin Zehnder, der sich besonders auf den Datenaustausch mit anderen Unternehmen in der Supply-Chain bezog: „Bei der Wichtigkeit und dem Wert, den Daten mittlerweile haben, ist es durchaus verständlich, wenn Unternehmen einen besonders sorgsamen Umgang mit diesen pflegen, besonders mit Blick auf die eher überschaubaren Einsparungsmöglichkeiten im Produktionsbereich. Was jedoch auch in Zukunft über den Fortbestand oder Untergang eines jeden Unternehmens entscheiden wird, ist das Erkennen von Megatrends.

Industrie lässt digitale Chancen ungenutzt
Dass sich die Industrie trotz enormer Einspar­potenziale und klarer Wettbewerbsvorteile nur bedingt mit der digitalen Optimierung ihrer Geschäftsprozesse beschäftigt, zeigt auch die ­Studie „How Industrial Machinery Makers Are Capturing the Digital Opportunity“ der ­inter­nationalen Managementberatung Bain & ­Company.
Dabei verändern digitale Technologien kaum eine Branche so sehr wie den Maschinenbau. Ersatz­teile werden mehr und mehr on demand hergestellt, Wartung und Upgrade sind punktgenau am Bedarf und an den festgelegten Terminen ausgerichtet. Und das alles bei einer immer höheren Kundenerwartung hinsichtlich Service und Performance. „Unternehmen, die jetzt auf die Digi­talisierung ihrer Prozesse setzen, schaffen sich Spielraum für innovative Entwicklungen, neue Geschäftsfelder und enorme Einsparungen“, betont Klaus Neuhaus, Bain-Partner und Autor der Studie. „Und nur diejenigen, die passgenau produzieren, Maschinen laufend optimieren und Kunden Echtzeitservices bieten können, haben künftig die Nase vorn.“

Marktführer verlassen die unternehmerische Wohlfühlzone
Schon heute können beispielsweise Saat- und Erntemaschinen während ihres Einsatzes Daten sammeln. Damit tragen sie entscheidend dazu bei, die Erträge zu maximieren. Big Data,
Smart ­Factory, 3D-Druck oder Cloud-Dienste: Diese und viele andere digitale Möglichkeiten stehen Maschinenbauunternehmen heute bereits offen.
Doch die Mehrheit der Entscheider ist noch zu sehr auf einzelne Produkte und etablierte Geschäftsfelder fokussiert, anstatt ganzheitlich neu zu denken. „Neu denken heißt, den Fokus von Hardware- stärker auf Software-Engineering zu verlagern und die Mitarbeiter fit zu machen für die Veränderung der Branche“, erklärt der Bain-­Partner und Studien-Co-Autor Michael Schertler. „Maschinenbauer müssen ihre Potenziale rea­listisch ausloten und deutlich in ihr Know-how investieren.“
Dies ist zwar ein mehrjähriger Prozess, der Mut, Weitblick und Mittel erfordert, doch er lohnt sich. Digitalisierung im Maschinenbau betrifft alle Stufen der Wertschöpfungskette – sei es durch die Herstellung von benötigten Teilen just in time, sei es durch den Zugriff auf Daten jederzeit und überall oder sei es durch reduzierte Lager­kosten.
Das Potenzial für Kostensenkungen und Effi­zienzsteigerungen liegt bei 15 bis 40 Prozent, abhängig von den Möglichkeiten in den einzelnen Wertschöpfungsstufen. „Es wird Jahre dauern, bis alle Maschinen und Teile digitalisiert sind“, so Industrieexperte Neuhaus. „Doch wollen Unternehmen vorankommen, dürfen sie nicht einfach abwarten. Nur wer mit der neuesten Technologie arbeitet, ist künftig noch interessant für die besten Talente. Auch das ist ein globaler Erfolgsfaktor, der nicht zu unterschätzen ist.“ (BO)