Bauteil mit Verantwortung

NEW BUSINESS Innovations - NR. 02, März 2017
Vernetzte, adaptive Produktion: Mit Digitalisierung und serviceorientierter Architektur zum flexiblen Produktionsnetzwerk. © Fraunhofer IZFP

Dank einer neuen Software teilen Bauteile den Maschinen selbst mit, was zu tun ist. Die Trennung von der zentralen Produktionsplanung ermöglicht eine bislang ungekannte Agilität und Flexibilität ...

...  ganz im Sinne der Industrie 4.0.

In der Fertigung wird heute ein Bauteil, zum Beispiel ein Motorblock oder der Rohling für eine Turbinenschaufel, in verketteten Bearbeitungsprozessen von mehreren Maschinen bearbeitet. Die Systeme drehen und fräsen das Bauteil und vermessen es zwischendurch immer wieder automatisch. Die Reihenfolge der Arbeitsschritte und die dafür benötigten Maschinen und Geräte sind in einer Art Fahrplan genau festgelegt. Doch ein solcher Plan arbeitet die einzelnen Schritte starr nacheinander ab. Fallen Maschinen aus oder müssen Bauteile aufgrund von Kundenwünschen priorisiert werden, muss der Unternehmer die Produktion mit hohem Aufwand umplanen oder den Maschinenpark umrüsten. Das kostet Zeit und Geld.

Bauteil weiß Bescheid
Viel schneller ginge es, wenn die Produktion und die erforderlichen Maschinen nicht von einem Steuerprogramm starr vorgegeben würden, sondern wenn jedes Bauteil selbst wüsste, wie es optimal und schnell durch die Prozesskette geleitet werden soll – ähnlich wie bei einem Navigationssystem im Auto, das die schnellste Route mit aktuellen Realdaten berechnen kann. Unmöglich? Keineswegs, wie die Entwickler des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnologie IPT in Aachen zeigen wollen: Die Aachener Ingenieure entwickeln ein Produktionssystem, bei dem jedes Werkstück selbst die Information trägt, welche Produktionsschritte es durchlaufen muss. „Serviceorientierte Architektur für die adaptive und vernetzte Produktion“ nennen sie ihre Entwicklung, die auf der Hannover Messe Preview mit einem Exponat vorgestellt wurde. Die Idee: Das Bauteil verhält sich wie ein Individuum. So wird zunächst zu jedem Bauteil die Information gespeichert, die vorgibt, welche Produktionsschritte es durchlaufen soll. Dabei ist bewusst offengelassen, welche Maschine genau einen speziellen Bearbeitungsschritt durchführen soll. Erst wenn ein Bearbeitungsschritt ansteht, wählt das System aus den Maschinen mit passenden Fähigkeiten diejenige aus, die unmittelbar oder schnellstmöglich verfügbar ist.
Entscheidend ist, dass bei jedem Produktionsschritt gesichert wird, welche Aufgabe durchgeführt wurde und was das Bauteil dabei tatsächlich erlebt hat: „Loch ist gebohrt mit Maschinenparameter A und Werkzeug X“, „Kante ist geschliffen mit Maschinenparameter B und Werkzeug Y“, „Oberfläche gefräst mit Maschinenparameter C und Werkzeug Z“. So zeichnet die Software die Produktionshistorie zu jedem einzelnen Bauteil auf, und es entsteht ein sogenannter digitaler Zwilling. Damit das Bauteil individuell erkannt wird, trägt es einen QR-Code.

Unikate fertigen dank digitalem Zwilling und Smart Manufacturing Network
Ziel ist es, mit der Software zu jedem Bauteil einen digitalen Zwilling – den Digital Twin – zu erzeugen. Über diesen ist zu jedem Zeitpunkt bekannt, was und womit er bearbeitet wurde und welcher Schritt als nächster folgt. Diese Strategie ist zum Beispiel für Unternehmen wichtig, in deren Maschinenpark Chargen unterschiedlicher Bauteile gefertigt werden. In der konventionellen Fertigung müssen immer wieder Systeme beim Wechsel auf das neue Produkt angehalten, umprogrammiert und umgerüstet werden. Bei dem serviceorientierten Ansatz hingegen teilt das Produkt den Geräten selbst mit, was zu tun ist. „Durch die Vernetzung von Bauteilen und Maschinen können Unternehmen in Zukunft hintereinander Unikate fertigen, also sogar Chargen mit Losgröße 1“, sagt Michael Kulik, der als Projektleiter am Fraunhofer die neue Software mitentwickelt. Alle Prozessdaten des jeweiligen Bauteils sollen dafür in Form des Digital Twin in einem intelligenten Fertigungsnetzwerk, dem „Smart Manufacturing Network“ bereitgestellt werden. Sie erlauben, im Nachhinein Datensätze zu analysieren und weiterzuverwenden, wodurch sich die Prozessrobustheit sowie Produktqualität erhöhen lassen. Wie der Digital Twin, die serviceorientierte Software und die Anbindung an das intelligente Fertigungsnetzwerk funktionieren, erklären die Forscher auf der Preview, der Hannover Messe, an einer kleinen, symbolisierten Fertigungslinie.

Serviceorientierte Software ermöglicht ­flexible Produktion
Einzigartig an der serviceorientierten Software ist, dass sich die Reihenfolge des Produktionsprozesses einfach über ein Menü konfigurieren lässt. Dazu zieht der Nutzer aus einer Liste aller Dienste, die von der Produktionsumgebung und damit aus den Produktionsmaschinen abgeleitet werden, einzelne Arbeitsschritte per Drag-and-drop in die gewünschte Prozesskette und reiht diese wie Bausteine aneinander. Wenn eine Maschine ausfällt, kommt eine Produktion, die top-down zentral gesteuert ist, bisher im ungünstigsten Fall komplett zum Stehen. Mit der serviceorientierten Software soll das nicht mehr passieren: Da in dem Rezept des Digital Twins im Detail gespeichert ist, welcher Schritt als nächster zu erfolgen hat, kann man das Bauteil flexibel zu einer anderen Maschine umleiten, die den nächsten Arbeitsschritt anbietet. „Viele Maschinen können in einer Fertigungslinie mehrere Aufgaben erfüllen“, sagt Michael Kulik. „Eine technisch ausgefeilte 5-Achs-Fräsmaschine kann zum Beispiel auch den Job einer einfacheren 3-Achs-Fräsmaschine erledigen.“ Bei einer zentralen Produktionsplanung ist ein solcher Wechsel aber normalerweise nicht vorgesehen, weil die gesamte Fertigung auf bestimmte Arbeitsschritte und Maschinen festgelegt ist. „Innerhalb des Smart Manufacturing Network kann die serviceorientierte Software in Zukunft flexibel entscheiden, den Job auf der 5-Achs-Maschine zu erledigen, die gerade frei ist.“

Plug-and-produce
Eine wichtige Voraussetzung für eine flexible Produktion ist auch, dass sich Maschinen verschiedener Hersteller leicht in das intelligente Produktionsnetzwerk einbinden lassen. Deshalb arbeitet das IPT im Fraunhofer-Leistungszentrum „Vernetzte, adaptive Produktion« gemeinsam mit Partnern aus Wissenschaft und Industrie an der Integration der unterschiedlichen Herstellersysteme in eine gemeinsame, übergeordnete Software- und Datenplattform. „Denn eine Art Plug-and-play, wie man es von Alltags-Technik kennt, gibt es in der Industrie noch nicht“, sagt Dr. Thomas Bobek, Koordinator des Fraunhofer Leistungszentrums. „Unser Ziel ist es deshalb, ein Plug-and-produce möglich zu machen.“ (MW)

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