Brüssel will EU-Binnenmarkt weiterentwickeln und Wien bringt sich ein © APA - Austria Presse Agentur

Wirtschaftsminister Martin Kocher und Europaministerin Karoline Edtstadler (beide ÖVP) haben am Dienstag Lobgesänge auf den europäischen Binnenmarkt abgehalten, aber doch eine dringende Weiterentwicklung dieses "Erfolgsmodells" gefordert. Nach fast 35 Jahren sei eine Adaption angebracht und nachvollziehbar. Es gelte, sich rasch auf die neuen geopolitischen Herausforderungen einzustellen, die nächste EU-Kommission nach den EU-Wahlen im Juni müsse das zur Top-Priorität machen.

"Der Binnenmarkt muss neu ausgerichtet werden", sagte Kocher im Lichte einer rauer werdenden internationalen Lage. Das sei notwendig, um den Wohlstand in Österreich und Europa zu bewahren. Die nächste EU-Kommission müsse "die Rahmenbedingungen neu denken", forderte Edtstadler. Das passiert bereits und Österreich bringt sich dabei ein. Erste Vorarbeiten laufen, so Kocher. Wien bringe sich in Brüssel mit Punkten vor allem im Sinne der heimischen, kleinstrukturierten Wirtschaft mit ihren vielen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) ein. Insgesamt sei das Thema für alle Menschen in Österreich und Europa zentral, da die Wirtschaft Arbeitsplätze und den Wohlstand sichere.

Das gelte im Speziellen auch beim Thema Energie, so Kocher. Er brachte den Evergreen der Forderung nach einer Beschleunigung von Genehmigungen vor - speziell rund um das gesamte Thema des Ausbaus der Erneuerbaren. Nicht nur Infrastruktur und Netze gehörten ausgebaut und voll integriert, auch das Marktdesign müsse angegangen werden. Früher sei im Energiebereich der Wettbewerb im Fokus gestanden. "Jetzt geht es um Sicherheit und Transformation, es braucht Maßnahmen im Binnenmarkt. Die Energienetze sind noch nicht so integriert, wie sie es sein sollten", so der Arbeits- und Wirtschaftsminister.

Auch der Beihilferahmen gehöre neu aufgesetzt, so Edtstadler. Bei der Energie stehe die Sicherheit der Versorgung und die Leistbarkeit im Fokus. Thema seien auch die Verfügbarkeit kritischer Rohstoffe, der technologische Wandel und Ausbildungskonzepte.

Als weiteren Evergreen - und größeren Misston im Lobgesang - kam von der Politikerin besonders laut der Ruf nach einem Bürokratieabbau auf EU-Ebene - "keine Hürden, keine Bremsen", forderte Edtstadler. Ziel müsse es sein, die Berichtspflichten für Firmen in der EU um ein Viertel zu senken - bei bestehenden als auch bei künftigen. Daher sei auch die "Nachdenkpause" beim Lieferkettengesetz gut, dem Österreich in Brüssel die Zustimmung bisher nicht zuteilwerden ließ, sich lieber enthielt. "Ein guter Zweck heiligt nicht die falschen Mittel", so die Ministerin. Es gebe die Sorge, dass heimische, kleinere Firmen aus den internationalen Lieferketten rausfallen könnten, weil die Vorgaben im Lieferkettengesetz zu hoch seien. "Das können wir uns nicht leisten", so Edtstadler zum EU-Plan.

Zuerst gehörten bestehende Regeln auch tatsächlich durchgesetzt. Das gelte zum Beispiel beim Schutz geistigen Eigentums. Oder: Arbeitnehmerentsendungen müssten heutzutage doch auch ohne Formulare auf Papier möglich sein, sprach Edtstadler davon, dass man sich hierbei im "Vorsteinzeitalter" befinde.

"Es muss attraktiv sein, hier zu investieren, zu arbeiten und zu leben", sagte Kocher. Die Stärke Europas liege in der Innovationskraft, der Forschung und Entwicklung. Das müsse bei der geforderten Neuausrichtung des Binnenmarkts und des Auftritts gegenüber anderen Weltregionen zentral sein. "Es geht um kluge Regulierung, diese muss proportional sein und die Wirtschaftsstruktur mit kleinen Betrieben berücksichtigen." Es müsse eine "strukturelle Entlastung von Regulierungsbelastungen" hergestellt werden.

Europa müsse trotzdem offen bleiben gegenüber anderen Teilen der Welt, betonte Kocher. "Dabei dürfen wir nicht naiv sein, die Souveränität gehört gestärkt, wo sie besonders wichtig ist."

"Viel lernen" könne man, wenn man sich die Maßnahmen in anderen Weltregionen anschaue, auch wenn sich Kocher einmal mehr "grundsätzlich gegen einen Subventionswettlauf" positionierte. Es gehe ums Thema Steuerentlastung versus Subventionierung - dahingehend könne man in die USA blicken.

"Es ist geradezu absurd, dass die österreichische Bundesregierung vom Binnenmarkt schwärmt - während sie selbst ihn permanent bremst", monierte hingegen NEOS-Außenpolitiksprecher und EU-Spitzenkandidat Helmut Brandstätter in einer Reaktion auf die Aussagen der Volkspartei-Vertreterinnen. "Tatsache ist: Der Binnenmarkt ist ein zentraler Motor für Österreichs Wirtschaft, Österreichs Wohlstand wächst nur in einem starken Europa. Doch die ÖVP kann nicht einerseits mehr Binnenmarkt fordern, sich aber andererseits nicht konsequent für dessen Harmonisierung und die Reduzierung von Bürokratie einsetzen." Aus Sicht der Wirtschaftskammer (WKÖ) adressiere die Regierung hingegen die richtigen Themen, hieß es einer Aussendung vom Generalsekretariat.

Der Binnenmarkt sei "ein Schutzschirm, der es ermöglicht unsere Lieferketten in Krisenzeiten sicherzustellen", kommentierte der Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV), Christoph Neumayer, in einer Aussendung. Rund 70 Prozent des gesamten österreichischen Außenhandels wird mit den anderen EU-Ländern erzielt. Heimische Unternehmen ersparten sich durch den Wegfall der EU-Binnengrenzen jährlich rund 2,2 bis 5,5 Mrd. Euro und die Investitionen ausländischer Unternehmen in Österreich sind auf das Fünffache gestiegen. Das jährliche Wachstum liegt dank des Binnenmarkts laut Kocher um 0,5 Punkte über jenem, das ohne eine Teilnahme zu erwarten sei.