Jan Metzner ist Experte bei AWS für die Schnittstelle von IT-Systemen und der Industrie. Er beobachtet, dass immer mehr digitale Technologien zum Einsatz gebracht werden. © AWS
Automatisierung, Cloud, Big Data und intelligente Fabriken – das gehört zusammen. Aber ganz von allein gehen IT und OT nicht Hand in Hand ...
... Jan Metzner von AWS im Interview über Vorteile, Herausforderungen und Zukunftsvisionen.
Jan Metzner arbeitet als Specialist Solutions Architect für Manufacturing in EMEA bei Amazon Web Services (AWS). Seit mehr als 16 Jahren beschäftigt er sich mit verschiedenen Technologien wie Systemarchitektur, Betriebssystemen, Webtechnologien, Cloud-Computing, Microservices-Architekturen und IoT in industriellen Systemen. NEW BUSINESS hat mit ihm unter anderem über intelligente Fabriken, Big Data, die Cloud, Herausforderungen durch das Zusammenwachsen von Informationstechnologie (IT) und Operational Technology (OT) sowie seine Vision der Fabrik der Zukunft gesprochen.
Herr Metzner, wo liegen aus Ihrer Sicht die großen Herausforderungen in der Automatisierung der Industrie?
In den letzten Jahren sind die Anforderungen an die Fertigungsindustrie stark gestiegen. In der Vergangenheit wurden Herstellungsprozesse oft reaktiv verwaltet und konfiguriert, was zu Engpässen, Ausfallzeiten und verringerter Produktivität führte. Wir beobachten jedoch, dass immer mehr Industriekunden neue digitale Technologien nutzen, um schnellere und fundiertere Entscheidungen in ihren industriellen Prozessen zu treffen. Dabei besteht eine der größten Herausforderungen für sie darin, dass viele ihrer Systeme seit 20 bis 30 Jahren im Einsatz sind. Um in eine intelligente Fabrik integriert zu werden, müssen diese erst einmal vernetzt und mit Softwarefunktionen ausgestattet werden.
Industriekunden verfügen meist schon über riesige Datensätze, welche sie für die Verbesserung von Geschäftsabläufen in Abteilungen wie Qualitätsmanagement, Konstruktion und Design, Arbeitssicherheit und Produktivität, Anlagen- und Produktionsoptimierung, Lieferkettenmanagement sowie intelligente Maschinen und Produkte nutzen könnten. Doch obwohl fast jeder industrielle Prozess durch maschinelles Lernen (ML) digitalisiert und optimiert werden kann, ist es für Kunden oft schwierig, diesen Prozess zu navigieren. Erfahrungsgemäß gehören hier zu den grundlegenden Herausforderungen zum einen das Sammeln und Speichern von Daten – denn diese sind oft an den verschiedensten Orten innerhalb einer Fabrik abgespeichert, wie etwa in alten Maschinen, isolierten Systemen oder sogar noch auf Papier. Das erschwert den Prozess, sie zu identifizieren und auszuwerten. Hinzu kommt, dass die Entwicklung der Software für die Datenanalyse und -auswertung sich oft als komplex erweist.
Zum anderen besteht die Schwierigkeit darin, hoch qualifizierte Informatiker und ML-geschulte Entwickler zu finden, die intelligente Anwendungen erstellen und einrichten können. Für viele Unternehmen, die noch am Anfang ihrer Machine-Learning-Transformation stehen oder nicht über die erforderlichen umfassenden ML-Kenntnisse verfügen, sind dies erschwerte Startbedingungen. Infolgedessen lassen sich Änderungen an industriellen Prozessen nur langsam umsetzen, und es dauert in der Regel einige Zeit, bis die ersten Verbesserungen sichtbar werden. Deshalb suchen immer mehr Industriekunden zunehmend nach schnelleren und einfacheren Möglichkeiten, Daten aus ihren Prozessen zu erfassen und verwalten.
Welche Rolle spielt AWS in diesem Zusammenhang?
Industriekunden möchten immer mehr Einblicke in ihre Daten gewinnen, um bessere Geschäftsergebnisse zu erzielen. Dies kann durch Technologien und Cloud-Tools wie IoT, Data-Lakes, künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen erreicht werden. Jeder Kunde hat jedoch eine andere Vorstellung davon, wie er seine Anwendungsfälle angehen will. Deshalb bieten wir unseren Kunden nicht nur verschiedene Anwendungsmöglichkeiten, sondern auch die gleichen Anwendungschancen. Egal, ob es sich um ein Start-up oder einen Konzern handelt – all unsere Kunden können zum gleichen Zeitpunkt die exakt gleichen Services und Tools nutzen. So können beispielsweise Kunden, die schon über internes Wissen verfügen, sich per Baukastenprinzip nur die Tools dazu buchen, die ihnen noch fehlen, während andere zusammen mit unseren Beratungspartnern maßgeschneiderte Lösungen erstellen oder gar ganze konfigurierbare Standardlösungen kaufen können.
Die Cloud eignet sich somit ideal für die Implementierung von IT-Lösungen, die zum Aufbau der intelligenten Fabrik notwendig sind. Unternehmen können sich ganz einfach anhand von Teilprojekten an den Aufbau der intelligenten Fabrik herantasten. Falls ein Projekt scheitert, muss nur der jeweilige Dienst in der Cloud gekündigt werden. Hohe Anfangsinvestitionen in Experten und Infrastrukturen können somit minimiert werden, und das Risiko bleibt überschaubar. Aufgrund der hohen Rechen- und Speicherkapazitäten sowie der entsprechenden Dienste werden die Berechnungen für sowohl maschinelles Lernen als auch Datenanalysen über vielzählige Produktionsstandorte ermöglicht. Dies führt zu einer Beschleunigung von Innovationszyklen. Zudem können unsere Industriekunden von leistungsfähigen Angeboten sowie von einer Rechenzentrums- und Netzwerkarchitektur profitieren, die flexibel und äußerst innovativ ist und den höchsten Sicherheitsanforderungen gerecht wird. Dies ermöglicht es ihnen, ganz einfach hochzuskalieren, was im IoT-Umfeld von hoher Bedeutung ist.
Letzteres hat dazu geführt, dass eine Vielzahl unserer Kunden mit ein paar Tausend Geräten angefangen hat und mittlerweile über zehntausende, hunderttausende oder gar Millionen verfügt. Dieser Vorgang stellt normalerweise einen großen Aufwand dar, da diese Geräte angeschlossen, betrieben, programmiert und aktualisiert werden müssen. In der Cloud läuft das automatisch.
Können Sie ein Beispiel aus der Praxis mit einem Ihrer Kunden anschneiden, Das diese Zusammenarbeit illustriert?
Ein aktuelles Beispiel ist die „Volkswagen Industrial Cloud“, welche gemeinsam von AWS und dem VW-Konzern aufgebaut wird. Durch die Services von AWS kann VW zukünftig zwei fundamentale Fragen beantworten: In welchem Zustand befinden sich meine Anlagen? Und wie kann ich auf Grundlage der Ergebnisse meine Entscheidungen treffen? In den nächsten Jahren werden dazu Echtzeitdaten aus den weltweit verteilten Produktionsstätten des Konzerns zusammenfließen, welche von Sensoren erfasst und anschließend von standardisierten Apps in der Cloud analysiert werden.
Dies ermöglicht eine beschleunigte Bereitstellung von Anwendungen und macht die Produktion und Logistik effizienter und kostengünstiger. Wir stellen dem Konzern alle Instrumente zur Verfügung, welche er in Verbindung mit seinem internen Wissen benötigt, um die Produktion zu optimieren. Somit kann VW von Einsparungen in Höhe von mehreren Milliarden Euro ausgehen, sofern die Daten aller 124 Werke in ein paar Jahren standardisiert ausgewertet werden. Die derzeit von Volkswagen entwickelten Applikationen sollen nachfolgend Partnern und Lieferanten in einem offenen Ökosystem bereitgestellt werden, damit diese auch von den Synergien im Verbund profitieren können.
Dass Amazon mit AWS in diesen Bereich vorstößt, klingt wie ein Paradebeispiel für das Zusammenwachsen von IT- und OT-Systemen. Lässt man die Vorteile außer Acht, gibt es dann nicht auch Gefahren, die entstehen?
Weniger als Gefahr und eher als Herausforderung sehe ich, dass IoT-Daten in hohem Maße unstrukturiert sind und sich nur schwer mit herkömmlichen Analyse- und Business-Intelligence-Tools, die auf die Verarbeitung von strukturierten Daten ausgelegt sind, analysieren lassen. Des Weiteren zeichnen IoT-Geräte oft inkorrekte Prozesse auf. Die Daten dieser Geräte können häufig erhebliche Lücken, verfälschte Meldungen und falsche Messwerte aufweisen, die eine Analyse unzuverlässig machen. Hinzu kommt, dass IoT-Lösungen oft ein Flickenteppich aus Gerätesoftware, On-premises- und Cloud-Software sowie Hardware von verschiedenen Anbietern, die sich nur schwer zu einer Komplettlösung zusammenfügen lassen, sind.
Die bestehenden Lösungen erfordern auch, dass Unternehmen spezialisiertes Personal einstellen oder mit Systemintegratoren zusammenarbeiten müssen, um die benötigte Software zu aktualisieren oder gemeinsam komplexe Anwendungen zu entwickeln, um alle IoT-Dienste integrieren zu können.
Wie würden Sie in diesem Zusammenhang vorhandene Vorbehalte von Industrieunternehmen entkräften?
Die digitale Transformation stellt immer wieder neue Anforderungen an die Agilität von Unternehmen. Damit sich Unternehmen an den ständigen Geschäftswandel anpassen können, müssen Anwendungen flexibel sein. Herkömmliche lokale Anwendungen können da nur schwer mithalten, was Unternehmen daran hindert, mit dem Tempo des Markts mitzuhalten. Hier kommt die digitale Fabrik ins Spiel: Sie hat das Potenzial, Produktionsprozesse erheblich zu optimieren und zu digitalisieren. Denn zum einen können Daten, die durch die Integration unterschiedlicher Maschinen, Sensoren, Anlagen und Eingabegeräte über mehrere Standorte hinweg erfasst wurden, in einem gemeinsamen Data-Lake konsolidiert und analysiert werden. Basierend auf den dadurch gewonnenen Erkenntnissen lassen sich potenzielle Fehler, Lücken und Engpässe identifizieren, und Qualitätsprobleme können frühzeitig erkannt werden. Zum anderen kann die Cloud Industrieunternehmen dabei helfen, ihren Umsatz zu steigern, da sie Produkte schneller auf den Markt bringen, Marketingstrategien optimieren oder durch intelligente Produkte neue Einnahmequellen generieren können. Zudem können sie durch verbesserte Produktivität, Maschinenverfügbarkeit sowie Produktqualität ihre Infrastrukturkosten senken. Somit lassen sich Betriebs- und Produktionskosten reduzieren.
AWS verfügt über die umfassendste Palette an fortschrittlichen Cloud-Services und Funktionen, die heute auf dem Markt erhältlich sind, damit unsere Industriekunden schnell innovieren und ihren Betrieb optimieren können. Seit mehr als 25 Jahren entwickelt und produziert Amazon.com intelligente Produkte und vertreibt mittels modernster Automatisierung, maschinellen Lernens, KI sowie Robotik Milliarden von Produkten über sein weltweit vernetztes Vertriebsnetz. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, dieses einzigartige Know-how in Form eines Cloud-Service-Portfolios mit mehr als 200 Diensten für Industrie- und Maschinenbauunternehmen zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus arbeiten wir seit vielen Jahren vertrauensvoll mit zahlreichen und namhaften Industriekunden zusammen, wie beispielsweise Siemens, SKF, Airbus, Dräxlmaier und Volkswagen. Diese Kooperationen haben uns dabei geholfen, wertvolles Wissen und Erfahrungen zu sammeln, um unsere Produkte und Dienstleistungen für die Bedürfnisse dieser Branche zu entwickeln.
Wie sieht Ihre persönliche Utopie von der Fabrik der Zukunft aus?
Industriekunden in anlagenintensiven Branchen wie Energie, Fertigung, Transport, Bergbau und Landwirtschaft setzen zunehmend neue digitale Technologien ein, um schnellere und bessere Entscheidungen zu treffen. Wir arbeiten stetig an Innovationen und neuen Services, um genau dies voranzutreiben. Am 1. Dezember 2020 haben wir die „AWS for Industrial“-Initiative angekündigt, welche den Prozess der Erstellung und Implementierung innovativer IoT-, KI-, ML-Analysen und Edge-Lösungen erleichtert, um schrittweise Verbesserungen der betrieblichen Effizienz, Qualität und Agilität zu erzielen. Die Initiative umfasst sowohl neue als auch bestehende Services und Lösungen von AWS und unseren strategischen Partnern und wurde speziell für Entwickler, Ingenieure und Betriebe mit Industrieanlagen entwickelt, damit diese die Bereitstellung ihrer eigenen Anwendungen beschleunigen und die Digitalisierung, Überwachung und Optimierung ihrer industriellen Abläufe erleichtern können.
Ich sehe auch zukünftig Daten als einen Wegbereiter, denn durch sie können Hersteller datengesteuerte Entscheidungen treffen, Prozesse weiter automatisieren und Innovationen wie maschinelles Lernen, Computer-Vision und Robotics nutzen. Unternehmen werden auch weiterhin vor der Herausforderung stehen, zusätzliche Produktivität zu erzielen, die Verfügbarkeit ihrer Anlagen zu maximieren und die Qualität zu verbessern, und das bei gleichzeitiger Senkung der Kosten. Jedoch erkennen viele Industriekunden jetzt ihre Daten als wertvolles Gut, was ihre Bemühungen um die digitale Transformation fördert. Ich sehe auch den Trend Richtung Nachhaltigkeit. Viele Industriekunden sind bemüht, den Verbrauch von Wasser, Druckluft, Gas, Strom und Dampf zu reduzieren, um ihren Energieverbrauch zu verringern, wodurch sie Kosten einsparen und die Nachhaltigkeitsziele ihres Unternehmens erfüllen können. (RNF)