Von Start-ups Lernen

NEW BUSINESS Guides - INDUSTRIE GUIDE 2022/2023
Die Zusammenarbeit zwischen Industrie und Start-ups ist der beste Weg, um die Innovationskraft unserer Region zu erhalten. © Annie Spratt/Unsplash

Berthold Baurek-Karlic sieht großes Potenzial in der Zusammenarbeit von traditionellen Betrieben und Start-ups. Seine Erfahrungen hat er in fünf Lektionen darüber zusammengefasst ...

... was Industrieunternehmen von den „jungen Wilden“ lernen können.

Der Hype um Start-ups begleitet uns schon seit einigen Jahren. Über 100 sogenannte Unicorns (das sind Unternehmen, die weniger als zehn Jahre alt sind, aber eine Bewertung von über einer Milliarde Euro erzielen) wurden geboren. Gewinne sind in solchen Unternehmen vielfach nicht die Priorität und somit eine Seltenheit. Die Bewertungen basieren meist auf dem zukünftigen Potenzial, einer guten Portion Fantasie und Glück. Bei traditionellen Unternehmern lösen Unicorns demnach weitgehend Unverständnis aus. 

Erfahrene Mittelstandsunternehmer und Industrielle fragen sich, ob den Investoren hinter diesen Unicorns der Bezug zur Realität verloren gegangen ist. Sind im Start-up-Markt alle verrückt geworden, oder sollte man doch einen freundlichen Blick hinter die Kulissen wagen? Hat man selbst vielleicht etwas Wesentliches übersehen, oder verkauft sich heiße Luft doch nur, weil zu viel Kapital im Markt ist? 

Was kann man von den jungen Wilden, ihren experimentellen Zugängen und ihrer oft beschworenen Agilität wirklich lernen? Ich versuche – als mehrfacher Unternehmer, leidenschaftlicher Business-Angel, professioneller Venture-Fonds-Manager mit einem internationalen Erfahrungsschatz von rund 15 Jahren – einen Einblick hinter die Kulissen zu geben, wie Sie ihn bisher noch kaum gelesen haben. Als langjähriger Weggefährte von erfolgreichen, aber auch gescheiterten Gründern versuche ich in diesem Artikel neue, weniger offensichtliche Aspekte aufzuzeigen, die Start-ups und deren Kultur der Innovation wirklich ausmachen. 

Wenn ich mit etablierten Unternehmern zusammensitze, stehen immer wieder Vor­urteile im Raum. Junge Talente werden viel zu häufig unterschätzt und wenig ernst genommen. Das ist ein schreckliches Gefühl; ein Gefühl, an das ich mich selbst noch sehr gut erinnern kann. Diesem Umstand mit einem Generationenkonflikt – Jung gegen Alt – zu antworten, ist aber auch keine Lösung. Kollaboration, Zusammenarbeit zwischen Industrie und Start-ups und der Austausch mit erfahrenen Unternehmern (die immer häufiger auch als Business-Angels aktiv sind) sind der beste Weg, um die Innovationskraft unserer Region zu erhalten. 

Lektion 1: Zeitdruck und wenig Kapital
Auf der Autobahn gilt zu Recht eine Geschwindigkeitsbeschränkung, da das Risiko tödlicher Unfälle minimiert werden soll. In etablierten Unternehmen gibt es Risiko- und Kontrollsysteme, Compliance und andere administrative Regelwerke, die die verschiedenen unternehmerischen Risiken möglichst optimal managen sollen. Bei Start-ups gilt das Prinzip: „Der Schnellste gewinnt.“ Es wird experimentiert, und was nicht sofort funktioniert, wird auch schnell wieder verworfen. Was chaotisch wirkt, hat System.

Während man vor 20 bis 30 Jahren in Ruhe an Maschinen oder Produktionsverfahren tüftelte, Patente schrieb und über einen Zyklus von mehreren Jahren Innovation realisieren konnte, so hat man heute deutlich höheren Zeitdruck, insbesondere im Bereich der Digitalökonomie. Digitale Innovationen laufen über sogenannte Minimum Viable Products (kurz MVP), die rasch im Markt getestet und verworfen oder in Folge vertieft ausgebaut werden. 

Lektion 2: Dezentrales Arbeiten
Die Arbeitswelt ist seit der Covid-19-Pandemie auch in der traditionellen Wirtschaft im Wandel. Viele Büros stehen heute teilweise leer, da Mitarbeiter weiterhin das Homeoffice bevorzugen. Bei Start-ups wird dezentrales Arbeiten seit vielen Jahren – per Design – noch viel exzessiver betrieben. 

So gibt es Talente, die als Digital Nomads um die Welt reisen und von speziellen Hotels mit starker Internetanbindung aus arbeiten. Thailand hat sogar spezielle Visa für Digital Nomads eingeführt und erkannt, dass dieser Trend durchaus auch ein Wirtschaftsfaktor ist. Wieder andere Talente arbeiten aus ihrem weit entfernten Heimatland heraus für Start-ups in Österreich oder der EU als Contractor oder Free­lancer. 

Dieses Phänomen ist aus einer Not heraus entstanden und sollte nicht als Lifestyle missverstanden werden. Der „War for Talents“ – der harte globale Wettbewerb um die besten Köpfe der Welt – ist einer der treibenden Faktoren im Innovationswettbewerb geworden. In Österreich lesen wir ganz generell immer wieder von einem Fachkräftemangel, neben dem Mangel an IT-Experten. Dies ist ein globales Phänomen, kein nationales. 

Karrierewege und Entscheidungen für Arbeit­geber sind heute von weit mehr Faktoren als Stabilität, Sicherheit und einem guten Arbeitsumfeld geprägt. Wachstumsunternehmen suchen mit sogenannten Evangelisten global auf Konferenzen und Community-Meet-ups nach den schlauesten Köpfen und werben diese für ihre zukunftsweisenden Firmen an. Allen voran sind hier die größten Tech-Giganten aus den USA und Asien die stärkste Wettbewerber. 

Lektion 3: Kompromisslose Daten- und Kundenorientierung
Ein Produkt, das funktioniert, hat Kunden, die sich verliebt haben. Vertrieb und Messung der Kundenaktivität sowie -zufriedenheit erfolgen zu 100 Prozent digital. Es wird schnell und laufend evaluiert, ob ein Produkt oder auch nur ein neues Feature vom Markt angenommen wird. Der Kunde hat volle Aufmerksamkeit. 

Bei traditionellen Unternehmen – wie ich aus eigener Erfahrung weiß – hängen IT-Projekte oftmals länger in der Planung, als Start-ups für die Erstellung eines Prototyps oder gar fertigen Produkts benötigen. Kosten für Fehlentwicklungen und Fehler im Timing der Produktplatzierung (bei gegebener Marktreife oder Marktadoptionsrate) werden von Start-ups und Scale-ups durch deren Arbeitsweise deutlich stärker vermieden.

Ein zentrales Instrument der Unternehmenssteuerung in agilen Unternehmen ist weder die Kostenrechnung noch das Budget. Hier wird in OKR (Objectives and Key Results) gemessen. Dieses System orientiert sich an einer zentralen „North Star Metric“, der einen zentralen Kennzahl, die für den Unternehmenserfolg ausschlaggebend ist. Diese Kennzahl ist stets kundenorientiert und steht über allen Subzielen in der Organisation. Alle Ziele aller Mitarbeiter sind selbst bei Unternehmen wie Google, die dieses Managementsystem ebenfalls einsetzen und auch teilweise entwickelt haben, transparent und offen für jeden in der Organisation einsehbar.

Wie man so ein System implementiert, ist ganz einfach: Ein Ziel, das nicht messbar ist oder nicht auf die North Star Metric einzahlt, ist kein Ziel. Dieser einfachen Regel folgend, wird die gesamte Organisation durchdesignt. 

Lektion 4: Experimente als Erfolgsgeheimnis
Wie schon in den vorangegangenen Punkten angeschnitten, ist das Geheimnis des Erfolgs eine Vielzahl von Experimenten und deren laufende Messung. Alles, was man in einem gescheiterten Experiment lernt, ist wertvoll und wird dokumentiert. Wer Fehler macht, treibt das Unternehmen und dessen Erfolg zwangs­läufig voran. Klingt paradox? Nein. Jeder Wissenschaftler arbeitet nach diesem Prinzip. In dieser Disziplin werden Beweise für widerlegte Hypothesen ebenso gern publiziert wie bahnbrechende Erfindungen. 

Als Start-up-Unternehmer weiß man: Nur wer das Scheitern in seiner Unternehmenskultur als Erfolgsfaktor implementiert, wird letztlich Erfolg haben und Mitarbeitern bzw. Teams von herausragenden Talenten den nötigen Freiraum lassen, um sich zu entfalten. 

Es ist wichtig, jedes Thema neu, kreativ und aus jeder Richtung betrachten zu dürfen. Nicht umsonst antwortet Elon Musk auf die Frage, wie er dazu kam, Autos zu bauen, gerne mit dem Satz: „Ich baue keine Autos, ich baue ein (Software-)Produkt, das Menschen von A nach B bringt.“ Das Erlebnis des Kunden steht im Vordergrund und somit das Interesse, diesem eine Freude zu machen.

In einem Vortrag eines Google-Managers vor vielen Jahren wurde davon berichtet, dass die hauseigene Suchmaschine nur sehr wenige (ich meine mich zu erinnern, dass es nur zwei oder drei waren) Änderungen am Such-Algorithmus jährlich ausrollt. Diese Änderungen oder Verbesserungen am Algorithmus werden aber in weit über 100.000 Experimenten pro Jahr entwickelt.

Lektion 5: Paying Forward Mindset
Das Image traditioneller Industriebetriebe ist in den Augen junger Gründer und Talente, die sich immer häufiger gegen eine Karriere in einem Betrieb entscheiden, ein sehr verstaubtes, starres, in sich geschlossenes und straffes. Persönlich habe ich hier zwar durchwegs deutlich positivere Erfahrungen in Betrieben gemacht, die ich durch Projekte von innen kennenlernen durfte. Ein wesentlicher Unterschied zu Start-ups ist mir jedoch in der Unternehmenskultur aufgefallen. 

Bei dynamischen Wachstumsunternehmen, wie eben Start-ups, wird offen in Communitys der Austausch gesucht. Man tauscht sich ohne Grenzen der Hierarchie im Unternehmen aktiv aus und geht sogar noch einen Schritt weiter. Man sucht auch den direkten Austausch mit dem Mitbewerb. Das gemeinsame Interesse, innovativer und schneller zu werden, steht oftmals im Vordergrund. Die eigene IP (Intellectual Property), sofern sie überhaupt schützbar ist, wird recht offen kommuniziert. Man weiß, dass Wissen über ein Geschäft noch lange nicht kopierbar macht. 

Die Zusammenarbeit im Ökosystem der innovativsten Unternehmen ist geprägt vom sogenannten Paying Forward Mindset – einem Anspruch an sich selbst sowie an die Community, offen zu sein und sich gegenseitig bei der Problemlösung zu unterstützen. Manchmal ist dies ein unterstützender Akt der Vernetzung, manchmal eine kommerzielle Zusammenarbeit, die bei Weitem nicht kostendeckend ist, oder auch der Austausch von Erfahrungen aus gescheiterten Experimenten.

Die Conclusio, die ich für mich persönlich gezogen habe, ist, dass Start-ups und insbesondere Scale-ups bei genauerer Betrachtung sehr gut organisierte, auf Kunden ausgerichtete Innovationstreiber sind, die traditionellen Unternehmen in vielen Bereichen überlegen sind. Sie können Talente leichter für sich begeistern, werden immer schneller Probleme lösen und somit über kurz oder lang auch international in den schnellsten Innovationszyklen bestehen können.

Industriebetriebe hingegen haben in der Regel über Dekaden oder Generationen gewachsene Erfahrungen, besetzen Märkte. Das „alte Geld“ ist somit der ideale Partner für die jungen Wilden. Wenn man sich einen kleinen Kulturwandel erlaubt, dann kann aus einer Zusammenarbeit der beiden enormes Potenzial für die Betriebe, aber auch für die Gesellschaft und die Welt entstehen. Letztlich ist Innovation auch der Treiber der Dekarbonisierung und die Wurzel des Wohlstands in unseren Breiten­graden. Innovation passiert heute am besten miteinander. (BBK)


INFO-BOX
Über den Autor
Berthold Baurek-Karlic ist Gründer und ­Geschäftsführer der auf M&A und Venture­capital spezialisierten Firmengruppe ­Venionaire Capital, zu der unter anderem auch die Beteiligungsgesellschaft MOTEC VENTURES (motec.vc) und der Software­anbieter DEALMATRIX (dealmatrix.com) gehören. Er ist darüber hinaus Gründer und General­sekretär des Business Angel Institute (businessangelinstitute.org), Mitglied des Vorstands des European Super Angels Club (www.superangels.club), Vorstandsmitglied bei Homeppl (homeppl.com), ­Flovtec (flovtec.com), Unmanned Life (unmanned.life) und Vorsitzender des Aufsichtsrats von Blockpit (blockpit.io). Außerdem ist er Expert Partner diverser Akzeleratoren und Berater verschiedener Venture-Fonds sowie externer Berater in den EU-Programmen Horizon2020 (heute Horizon Europe) und Innovation Radar.

Als leidenschaftlicher Blogger schreibt er regelmäßig (www.baurek-karlic.at) zu diversen Themen rund um Angel- und ­Venture-Investments, Start-ups, und ­Zukunftstechnologien.