Wie kommt’s an?

NEW BUSINESS Guides - TRANSPORT- & LOGISTIK GUIDE 2024
Die Paketbranche ist zunehmend auf das Privatkundensegment angewiesen. © Adobe Stock/lassedesignen

Die letzte Meile zum Verbraucher ist aktuell die größte Herausforderung der Lieferunternehmen. Sind Paketboxen die Lösung? Und könnte das zum „Nokia-Moment“ der Zustellbranche werden?

Die Paketzustellung boomt weiter. So stieg etwa die Anzahl der in Österreich 2023 beförderten Pakete im Vergleich zum Vorjahr von rund 348 Millionen auf 368 Millionen an. Allein die Österreichische Post transportierte davon 200 Millionen, fast 800.000 an einem durchschnittlichen Tag. Ein Großteil dieser Päckchen wird an private Haushalte geliefert. Das hat seinen Preis, wie die Unternehmensberater von Kearney in einer aktuellen Studie festgestellt haben. Denn für Lieferunternehmen werden diese Kosten im Wettbewerb zu einem immer größeren Problem. 

Darin liegt auch das Dilemma, wie Sven Rutkowsky, Partner bei Kearney, weiß: „Auf dem Land treiben die steigenden Arbeitskosten, geringe Stoppdichte und Kraftstoffpreise die Kosten, in den Ballungsräumen Mehrfachzustellung und Regulierung in puncto Zugang, Parken und Emissionen. Gleichzeitig nimmt der Wettbewerbsdruck zu, weil das Mengenwachstum gegenüber den Boomjahren 2020 und 2021 deutlich zurück­gegangen ist.“ 

Eine Lösung liegt den Beratern zufolge darin, die „letzte Meile“ wieder an den Kunden abzugeben. Das heißt, Pakete werden an einen anderen Ort als den Wohnsitz des Empfängers geschickt – an einen nahen, leicht erreichbaren Ort, an dem das Paket dann selbst abgeholt werden soll. „Neben dem Arbeitsplatz der Kunden, gibt es aktuell zwei praktikable Formen dieser sogenannten Out-of-Home-Zustellung“, erklärt Rutkowsky.

Die traditionellere und immer noch häufigere Form sei die Lieferung an ein Geschäft, einen Supermarkt, eine Tankstelle, wo Kunden ihre Pakete während der Geschäftszeiten abholen können. Allerdings zeigt die aktuelle Untersuchung von Kearney, dass der Trend ganz klar in eine Richtung geht: „Paketboxen, also automatische Paketautomaten oder Schließfächer, werden zu einer attraktiven Option für Transportunternehmen und die Kunden. Wir schätzen, dass das Volumenwachstum hier bis zu fünfmal höher sein wird als bei der Hauszustellung.“

Beispiele für diesen Trend gibt es reichlich: Das Land Niederösterreich erhebt etwa im Rahmen des Pilotprojekts „Multifunktionale Umschlagsboxen in Niederösterreich“ an verschiedenen Standorten, ob und in welchem Ausmaß ­Paketboxen als Bestandteil öffentlicher Infrastruktur einen Beitrag zu strategischen Zielen des Landes leisten können. Bis zumindest Ende 2025 soll geprüft werden, unter welchen ­Rahmenbedingungen sich betreiberunabhängige, offene und neutrale Umschlagsboxen als Teil der öffentlichen Infrastruktur etablieren können.

Die Österreichische Post wiederum hat vor – neben anderen Initiativen in diesem Bereich – an den ehemaligen Standorten öffentlicher Telefonzellen eigens entwickelte Minipaketstationen zu errichten. Und das österreichische Unternehmen Myflexbox meldete erst kürzlich einen Meilenstein mit mehr als 700 Paketstationen in Deutschland und Österreich.

Hauszustellung ist am wenigsten effizient
Die Paketbranche ist zunehmend auf das Privatkundensegment angewiesen. Während dieses auch in den nächsten fünf Jahren um rund zehn bis 20 Prozent steigen wird, wächst der Markt für Geschäftskunden Kearney zufolge lediglich mit der Rate des Bruttoinlandprodukts. Das Vorantreiben der Alternativen zur Hauszustellung für Privatkunden ist laut den Unternehmensberatern für alle Wettbewerber überlebensnotwendig.

„Mit über 50 Prozent der Lieferkosten ist die letzte Meile bis zur Haustür des Kunden mit Abstand der teuerste Teil und die Hauszustellung die am wenigsten effiziente Zustellart“, so Robert Morwind, Projektleiter bei Kearney. „Wir haben errechnet, dass eine Lieferung, die beispielsweise 3,50 Euro ­kostet, im Mittel bei der Nutzung einer Paketbox statt der Hauszustellung rund einen Euro pro Paket spart. Die Gewinnspanne steigt dabei um etwa 30 Prozentpunkte.“ Auf der Umweltseite hingegen mehren sich die Forderungen, Stadtzentren in Nullemissionszonen zu verwandeln oder die Elektrifizierung kommerzieller Flotten zu erzwingen. Zudem wird der Einsatz von LKW und Transportern in bestimmten Gebieten oder zu bestimmten Tageszeiten eingeschränkt.

„Wenn die Verbraucher die Paketboxen bequem ohne PKW, ohne Umwege erreichen können und das Fahrzeug, mit dem ein Schließfach beliefert wird, umweltfreundlich ist, können die Gesamtemis­sionen schätzungsweise 15-mal niedriger sein als bei Zustellung desselben Pakets direkt an die Haustür“, schätzt Morwind. Die Konsequenz liegt für Kearney auf der Hand: Lieferunternehmen, die bei der Ausweitung auf Paketboxen hinterherhinken, riskieren zunehmend Nachteile in diesem hart umkämpften Markt.

Wollen die Kunden das?
Nun stellt sich allerdings die Frage, ob die Kunden bereit sind sich darauf einzulassen, nachdem sie an den Komfort der Hauszustellung gewöhnt sind. Für Rutkowsky ist klar: „Der Nutzen für Verbraucher dreht sich um die Erreichbarkeit und Verfügbarkeit der Paketbox und die Möglichkeit, Zustellkosten zu sparen.“ Richtig interes­sant werde es also dann, wenn für den Endkunden die Hauszustellung teurer wird als die Paketboxnutzung.

„Aktuell verlangen DHL und Co. noch keinen Aufpreis, das könnte sich aber bald ändern und die Akzeptanz von Paketboxen schlagartig erhöhen.“ Die Vorteile für den Verbraucher hinsichtlich Kosten, Rücksendekom­fort und Nachhaltigkeit erscheinen eindeutig, könnten jedoch auch durch die Zustellung in ein Geschäft nebenan realisiert werden. Was spricht also für das langfristige Durchsetzen von Paketboxen?

Eine nicht repräsentative Kearney-Umfrage deutet darauf hin, dass insbesondere jüngere Verbraucher die Vorteile von Paketboxen, wie die kontaktlose Kundenerfahrung und die Möglichkeit, Zeit und Ort frei zu wählen, sehr schätzen. 70 Prozent der Befragten nannten kurze Abholzeiten und die Verfügbarkeit rund um die Uhr als wichtige Gründe, warum sie Paketboxen vor­ziehen. Rücksendungen sowie der Verkauf von Secondhandware machten vor allem während der Covid-Pandemie einen wachsenden Anteil der Gesamtsendungen aus.

Obwohl dieser in der Folgezeit etwas zurückging, sieht Morwind einen zunehmenden Trend: „Genau hier setzen die Paketboxensysteme an. Rücksendungen ohne Etikett und die Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit machen sie für Verbraucher gegenüber den traditionellen Sendungs- und Rücksendungsmöglichkeiten überlegen.“

Kommt jetzt die Paketboxen-Flut?
„Wir sind der Meinung, dass die Paketboxen einen mächtigen, sich selbst verstärkenden Wachstumszyklus in Gang setzen können, der die gesamte Logistik zum Endkunden umgestaltet“, erklärt Rutkowsky. Mehr Paketboxen und Preisdifferenzierung erhöhen die Akzeptanz. Dies treibt in Verbindung mit dem steigenden Kostenvorteil mehr Investitionen in Paketboxen. Je größer die Paketboxennetzwerke werden, desto bequemer werden sie für die Kunden. Dieser „Schwungradeffekt“ könnte sich als besonders ausgeprägt für „First Mover“-Anbieter und Marktführer erweisen.

Diese können frühzeitig Markenbekanntheit, Kundentreue und Skalen­effekte aufbauen und sich die günstigsten und kosteneffizientesten Standorte sichern. „2022 sind Paketboxennetze in allen europäischen Ländern um 3.000 bis 6.000 Paketboxen pro Land gewachsen. Wir schätzen das Potenzial für ein Wachstum auf etwa 400.000 zusätzliche Paketboxen auf dem gesamten Kontinent“, so Morwind. Unterm Strich werden sich Lieferdienste mit einer großen Präsenz durchsetzen. 

Es könnte aber auch anders kommen: In einigen europäischen Ländern, wie Polen, haben sich Paketboxenbetreiber ohne eigenes Verteilnetz bereits eine Poleposition erkämpft und wachsen derzeit stärker als die Zustelldienste. Diese könnten zu Subunternehmen der großen Boxennetzwerkbetreiber werden. Infrastrukturfonds sind interessiert, Investitionen in Paketboxen auch im großen Stil zu finanzieren. Während es zwischen den Lieferdiensten einen Wettbewerb um die besten Standorte gibt, erhöht sich der Druck auf die Politik, eine Regulierung zu schaffen, die die Eigentümer der Paketboxen zwingen könnte, diese allen Zustellern zugänglich zu machen. Das spielt neutralen Boxennetzwerken in die Karten. 

„Ein Wettbewerbsvorteil der Vorreiter unter den Lieferdiensten könnte auch dann bleiben, denn es wird Möglichkeiten geben, den ‚eigenen Paketen‘ gewissen Vorteile zu verschaffen. Auch die durch lokale Regulierung erzwungene Konsolidierung der Zustellung in dicht besiedelten Gebieten, sodass die letzte Meile von einem einzigen lizenzierten Anbieter betrieben werden muss, wurde bereits in einigen Städten Europas umgesetzt“, erklärt Rutkowsky. Aber eine Regulierung zu neutralen Paketboxen sei wesentlich wahrscheinlicher als eine Zwangsmonopoli­sierung. 

So oder so, das Rennen um die Paketboxen könnte der Nokia-Moment der Zustellbranche sein. Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt und entsprechend handelt, könnte vom Mitbewerb nur noch die Rücklichter sehen. (RNF)


INFO-BOX
Der Nokia-Moment
Als „Nokia-Moment“ bezeichnet man es im Allgemeinen, wenn ein Unternehmen mit einer dominierenden Stellung am Markt eine bahnbrechende Innovation nicht ­erkennt und von dem innovationsfreudigeren ­Mitbewerb oder einem gänzlich neuen „Player“ verdrängt wird. Diese ehemaligen Marktführer schaffen es meistens nicht, ihre frühere Position wiederzuerlangen. Das namensgebende Beispiel dafür aus der jüngeren Vergangenheit ist der Handyhersteller Nokia. Das Unternehmen hat den Smartphone-Trend durch iPhone und Co. unterschätzt und sich davon in diesem ­Segment nicht mehr erholt.