2015 wurde Claus J. Raidl mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen mit Stern für Verdienste um die Republik ausgezeichnet. © OeNB
Erfahrung: Die Schule des Lebens.
Was habe ich in meiner Schulzeit fürs Leben gelernt? Eine Frage, die nicht unbedingt jeder mit vollster Zufriedenheit beantworten kann. Claus J. Raidl kann es.
Die Reise beginnt
Der OeNB-Präsident verbrachte das Schuljahr 1959/1960 in den USA – für ihn ein prägendes und wirklich nachhaltiges Erlebnis: „In Amerika habe ich eine völlig andere Beziehung zwischen Lehrern und Schülern kennengelernt. Schüler waren dort kein Störfaktor im Schulbetrieb, sondern jeder Lehrer hat versucht, die Stärken der Schüler zu stärken und die Schwächen auf ein Niveau zu bringen, das für die Bewältigung des eigenen Lebens notwendig war. Jedem Schüler sollte das Rüstzeug mitgegeben werden, sein Leben meistern zu können.“
Dass es auch „anders“ geht, erfuhr Claus J. Raidl aber nicht nur auf der Schulbank. Der amerikanische Alltag und die Lebensweise seiner damaligen Wegbegleiter eröffneten ihm eine völlig neue Sicht und Lebenseinstellung. Im Guten wie im Schlechten: „In den USA ist vieles viel oberflächlicher und kurzlebiger. Freundschaften oder vielmehr Bekanntschaften werden schnell geschlossen – was wegen der beruflichen und räumlichen Mobilität des Einzelnen auch notwendig ist. Nichts wird für die Ewigkeit gebaut: weder die Häuser noch die Ausbildung noch der Beruf. Ich habe auch versucht, das politische System zu verstehen, und habe die Mobilität des Einzelnen in Bezug auf die politischen Parteien erlebt. Man wählt einmal republikanisch und einmal demokratisch, je nach dem aktuellen Wahlprogramm und/oder den Kandidaten. So viel zu Amerika.“
Früh übt sich
Im Studentenleben angekommen, führte Claus J. Raidl seine ambitionierte Erfahrungssammlung fort, indem er sich als Vorsitzender der Hochschülerschaft an der Hochschule für Welthandel eifrig in der Hochschulpolitik engagierte. Ein Grund, wenn nicht sogar Meilenstein für seine heutige Überzeugungskraft, Gesprächskultur, Diskussionsbereitschaft und sein Verhandlungsgeschick. Auch mit dem Einstieg ins Berufsleben erweitere Claus J. Raidl seinen Erfahrungsschatz: „Mein erster Job war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für angewandte Sozial- und Wirtschaftsforschung. Mein damaliger Chef, der anerkannte Univ.-Prof. Karl Wenger, hat mir nicht nur das wissenschaftliche Arbeiten beigebracht, sondern auch den Mut mitgegeben, alles zu hinterfragen und keinen Respekt vor ‚Obrigkeiten‘, vor allen nicht vor Politikern, zu haben.“
Sein politisches Interesse führte ihn Anfang der 70er-Jahre in den Mitarbeiterstab des damaligen ÖAAB-Obmanns Alois Mock, wo er unter anderem lernte, wie Politik „funktioniert“, wie politische Abläufe sind und wie politische Entscheidungen oft fallen: „Wenn man das miterlebt, verliert man wirklich jeden Respekt vor der ‚großen Politik‘.“
Seinen nächsten guten Rat bekam Claus J. Raidl 1981: „Als ich meinen Vertrag als Vorstandsmitglied der Wien Holding erhielt, hat mir der damalige Vorstandsvorsitzende Dr. Josef Machtl gesagt: ‚Sie haben jetzt einen sehr guten Vertrag bekommen (was auch tatsächlich so war), aber vergessen Sie nie: Der Vertrag muss Ihnen den Mut geben, auch nein zu sagen, denn: Sie werden nicht fürs Ja-Sagen bezahlt.‘ Ein Satz, der auch heute noch Gültigkeit hat.“
Verantwortungsvolles Miteinander
Was den Geschäftsalltag eines jeden Berufstätigen prägt und bereichert, sind vor allem die Kollegen und Mitarbeiter. Das Miteinander im Unternehmen spielt auch für Claus J. Raidl eine tragende Rolle in der Geschäftswelt, vor allem, was Entscheidungen und Vertrauen anbelangt: „Ich habe in meiner aktiven Berufszeit immer versucht, zuzuhören, möglichst viele Meinungen und Analysen und Alternativen einzuholen (von meinen Mitarbeitern), um dann zu entscheiden – schon gemeinsam, aber es war mir immer bewusst, dass ich die Verantwortung zu tragen habe. Ich habe manchen Vorstandskollegen offen gesagt: Du bekommst die Gage, du musst die Verantwortung tragen, und keiner darf sich auf seine Mitarbeiter ausreden (was dann versucht wurde, wenn etwas „schief“ gelaufen ist).“
Die menschliche Komponente des Berufslebens liegt Claus J. Raidl, neben dem Aktienrecht, dem Corporate-Governance-Kodex und heute natürlich auch allen Compliance-Vorschriften, besonders am Herzen: „Ich habe immer einen sehr offenen Stil gepflegt – im wörtlichen Sinne! Meine Tür stand offen und jede und jeder bekam rasch einen Termin. Da alle wussten, dass ich oft sehr lange (am Abend und auch am Wochenende)im Büro bin, war das dann für mich und meine Mitarbeiter die beste Gelegenheit, zwanglos zu reden.“
Die Reise geht weiter
Der heute 73-jährige Claus J. Raidl ist mit seiner fast 50-jährigen Berufserfahrung Zeitzeuge gravierender Höhen und Tiefen der heimischen und globalen Wirtschaft. Die Ereignisse der Vergangenheit und das Wissen um ihre Bedeutung bewegen das Berufsleben des Branchenexperten bis zum heutigen Tag. Schließlich stehen wir auch jetzt gerade wieder an einem existenziellen Scheideweg.
„Das Besondere an meiner aktuellen Position als Präsident der OeNB ist, dass ich miterlebe, wie man versucht, die größte Krise seit dem II. Weltkrieg mit einer neuen Dimension der Geldpolitik, mit Fiskalpolitik und auch mit neuen Regulativen für den Bankensektor zu bewältigen. Es ist faszinierend, zu sehen, mit welcher Ernsthaftigkeit und mit welchem Tiefgang um Lösungen gerungen wird, es ist aber auch bedrückend, zu erleben, wie schwierig die aktuelle Situation ist.“ (BO)
ZEHN FRAGEN AN CLAUS J. RAIDL
Was wollten Sie als Kind werden?
Zuckerbäcker – in der Nachkriegszeit waren Süßigkeiten Mangelware!
Was bedeutet Glück für Sie?
Glück im Sinne von „Happiness“ bedeutet für mich: Wenn es meinen Söhnen gut geht. Ich persönlich bin oft zufrieden, wenn ich eine Arbeit oder Aufgabe erledigt habe und Zeit habe, etwas zu lesen oder einfach in „die Luft zu schauen“.
Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?
Henry Kissingers „Weltordnung“ und „F“ von Daniel Kehlmann.
Welche Persönlichkeit inspiriert Sie?
Hans Peter Haselsteiner: In seiner liberalen Haltung als Mensch und als Politiker, als erfolgreicher Unternehmensführer, der eines der größten europäischen Bauunternehmen aufgebaut und geleitet hat, der eine ausgeprägte Ader für Kunst und Kultur hat (Festspiele Erl, Komödienspiele Porcia in Spittal an der Drau, Rettung der Sammlung Essen, Neugestaltung des Künstlerhauses etc.) und der sehr viel Geld spendet für soziale Zwecke (z. B. für das Flüchtlingshaus Ute Bock oder Concordia Sozialprojekte).
Gibt es ein Lebensmotto, das Sie verfolgen?
Da ich nun schon einmal auf der Welt bin, versuche ich, das Beste daraus zu machen.
Mit wem würden Sie gerne einen Tag lang tauschen?
Mit meinem jüngsten Enkelsohn (vier Jahre) und mich verwöhnen lassen.
Was war Ihr bisher größter Erfolg?
Die erfolgreiche Börseeinführung von Böhler-Uddeholm und die sehr erfolgreiche Entwicklung von Böhler-Uddeholm: Im Rahmen der Börseeinführung saßen meine Vorstandskollegen und ich Menschen gegenüber, die uns ihr Geld anvertrauten in der Hoffnung, dass sich Böhler-Uddeholm gut entwickelt, Dividenden bezahlt werden und der Aktienkurs steigen wird. Das war für uns ein Wendepunkt! Denn in der alten Verstaatlichten haben oft irgendwelche Parteisekretäre oder Landeshauptleute entschieden, wer was wird.
Was ist das Verrückteste, das Sie je in Ihrem Leben getan haben?
Während der Studentenzeit war ich jeden Sommer in Paris und habe dort sehr unterschiedliche „Jobs“ gemacht. Einmal wurde mir angeboten, während eines Tages für eine deutsche Delegation aus dem Universitätsbereich, die sich mit ihren französischen „Counterparts“ getroffen hat, zu dolmetschen.
In maßloser Selbstüberschätzung habe ich das angenommen. Die ganze Aktion endete fast in einem Desaster, nur die Güte des deutschen Delegationsleiters hat mich davor bewahrt, hinausgeworfen worden zu sein.
Mein Bruder, bei dem ich in Paris immer wohnte, hat mich noch am Morgen des Tages gewarnt, diesen Job zu machen – er hat leider recht gehabt.
Was motiviert Sie, tagtäglich aufzustehen?
Meine Arbeit zu erledigen, aber auch Neues zu erleben.
Gibt es etwas, was Sie schon immer tun wollten, sich bisher aber nicht getraut haben?
Eine Reise in die Antarktis.
ZUR PERSON
Ökonom aus Leidenschaft
Der gebürtige Steirer Claus J. Raidl erlebte bereits vor seiner Matura 1961 ein besonders prägendes Schuljahr in den USA. Bepackt mit neuem Wissen und wertvollen Erfahrungen befriedigte er
sein wachsendes Interesse für die Weltwirtschaft an der Wiener Hochschule für Welthandel, das 1966 mit dem akademischen Grad „Diplomkaufmann“ und 1971 mit dem Doktor der Handelswissenschaften belohnt wurde.
Seine akademischen Errungenschaften brachte Claus J. Raidl zunächst im Forschungs-, Finanz- und Versicherungsbereich zum Einsatz, bevor er die Karriereleiter in den Vorständen zahlreicher renommierter Unternehmen, wie der Wien Holding, der Österreichischen Industrieverwaltungs AG, der VOEST-ALPINE AG, der VOEST-ALPINE STAHL AG, der AUSTRIAN INDUSTRIES AG, der BÖHLER-UDDEHOLM AG und der voestalpine AG weiter nach oben kletterte. Seit 1. September 2008 ist
er Präsident des Generalrates der Oesterreichischen Nationalbank.
Claus J. Raidl ist verheiratet und Vater von drei Söhnen.