Portugal hat viel zu bieten

NEW BUSINESS Guides - BILDUNGS- & KARRIERE-GUIDE 2023
Portugal liegt in der EU mit einem MINT-Anteil von 32 Prozent aller Master-Abschlüsse auf Platz zwei hinter Deutschland (35 %). © RNF

Unternehmen in vielen Ländern haben Probleme, offene Stellen mit gut ausgebildeten Fachkräften zu besetzen.

Manche blicken deswegen über Grenzen hinweg und siedeln sich an Orten an, die mit einem gut ­bestückten Arbeitsmarkt locken – wie zum Beispiel Portugal.

Portugal hat seinen Besuchern aus aller Welt einiges zu bieten. Die Kultur, die Küche, traumhaftes Wetter und natürlich das Meer lassen die Touristen ins Land strömen. Gar nicht unähnlich zu Österreich – bis auf die Küste, selbstverständlich. Dort hören die Gemeinsamkeiten aber nicht auf. Auch die Gesamtflächen und die Einwohnerzahlen der beiden geschichtsträchtigen Nationen liegen nah beieinander.

Gerade in den letzten Jahren haben sich viele Unternehmen von rund um den Globus in Portugal niedergelassen. Das Land überzeugt mit seinen attraktiven Standortfaktoren. Filipe Santos Costa, seit 5. Juni 2023 Vorsitzender und CEO der Portugiesischen Agentur für Außenhandel und Investitionen (AICEP), führt dafür unter anderem geografische Gründe an, wie die Lage im äußersten Westen Europas und damit verbunden die gute Erreichbarkeit der Häfen für interkontinentale Schiffstransporte, de­ren Anbindung an das gut ausgebaute Verkehrsnetz, den hohen Anteil an erneuerbaren Energien am Energiemix oder die Verfügbarkeit von Flächen für Industrieansiedelungen.

Aber auch die politische und gesellschaftliche Stabilität und nicht zuletzt geringere Lohnkosten. „Was offensichtlich kein Wettbewerbsvorteil ist, den wir behalten wollen“, wie Costa mit einem Lächeln hinzufügt. Ohnehin fände man schon heute günstigere Arbeitskräfte innerhalb der Europäischen Union. „Ich denke, es geht um das Preis-Qualitäts-Verhältnis, was auch mit den vergleichsweise niedrigeren Lebenshaltungskosten in Portugal im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zu tun hat.“ 

Um ebendiese Qualität zu erreichen, wurde viel in den Bildungsbereich investiert. Die vor Jahrzehnten getroffenen politischen Entscheidungen haben sich ausgezahlt. Hinsichtlich der Absolventen in den MINT-Fächern und der Fremdsprachenkenntnisse könne man einen deutlichen Unterschied zwischen den älteren und den jüngeren Generationen erkennen, so Costa. Portugal liegt in der EU mit einem MINT-Anteil von 32 Prozent aller Master-Abschlüsse auf Platz zwei hinter Deutschland (35 %). In Österreich beträgt dieser Anteil 25 Prozent.

Soft Skills sichern den Job
Daran hat nicht zuletzt die Nova School of ­Science and Technology (Nova SST) ihren Anteil. Sie ist mit etwa 8.500 Studierenden (davon 38 % Studentinnen), 420 Fakultätsmitgliedern und rund 540 Mitarbeiter:innen eine der größten technischen Universitäten des Landes und liegt nur knapp 15 Minuten von der Hauptstadt Lissabon entfernt, auf der anderen Seite des Flusses Tejo. Gerade in Sachen IT und Innovation hat Nova eine führende Rolle eingenommen.

„Unsere Schule legt viel Wert auf praktische Erfahrung, auf praktische Anwendung. Natürlich kümmern wir uns auch um eine gute theoretische Grundlage. Aber anschließend denken wir darüber nach, wie man die Fähigkeiten anwenden kann, wie man das Wissen, das man erworben hat, anwenden kann“, führt José Paulo Santos, Vizedekan an der Nova SST, zum Forschungsschwerpunkt der Universität aus. Es würde aber auch viel Wert auf Soft und Social Skills gelegt.

„Und aus diesem Grund haben wir vor etwa elf bis zwölf Jahren ein neues Lehrprofil entwickelt. Das Ziel dieses Lehrprofils ist es, den Studenten mehr Fähigkeiten zu vermitteln, insbesondere Kommunikationsfähigkeiten, Zeitmanagement – was für die Studenten sehr wichtig ist –, Problemlösung, kritisches Denken, Kreativität, Führung und Anpassungsfähigkeit. Hard Skills gewinnen das Vorstellungsgespräch, aber Soft Skills sichern den Job.“

Generell müssten die oft noch vorhandenen Mauern zwischen den Lehrenden und den Lernenden eingerissen werden, wie es an der Nova größtenteils bereits der Fall sei, sagt Santos: „Heutzutage sind viele Studenten besorgt über Nachhaltigkeit und fragen sich, welchen Beitrag sie für die Gesellschaft leisten können. Dieses Umfeld hat verändert, wie Professoren mit den Studenten umgehen müssen.“

Ein Land mit inspirierender „Denke“
Die hohe Verfügbarkeit ausgezeichnet ausgebildeter Fachkräfte auf dem portugiesischen Arbeitsmarkt hat dazu geführt, dass Portugal und insbesondere die Ballungszentren und Universitätsstädte Lissabon und Porto nicht nur viele Tech-Start-ups hervorgebracht, sondern auch das Interesse ausländischer Unternehmen geweckt haben, die dort Technologieentwicklungszen­tren aufbauen. Ausgerechnet 2020, in einer Hoch­phase der Corona-Pandemie, ging zum Beispiel der europäische Anbieter für Cloud-Businesskommunikation Nfon in Portugals Hauptstadt an den Start.

Von den insgesamt rund 80 Developern des Unternehmens sitzen ungefähr 25 im Development Center in Lissabon und arbeiten tagtäglich eng mit ihren deutschen Kollegen zusammen. Auch liegt das neue Service- und Administrationsportal in der Zuständigkeit des portugiesischen Entwicklungszentrums, genauso wie die API-Schnittstelle, die eine komplett neue Architektur bekommt.

Warum Portugal? „Wir haben sieben Länder verglichen und haben für uns 20 Kriterien definiert. Natürlich gibt es Faktoren wie politische Stabilität, English-Proficiency, Cost-Ratio. Für uns war Logistik wichtig, also wie schnell man von unseren Hauptstandorten in Deutschland, wo wir Entwickler haben, dorthin kommt. Man kann natürlich auch zum Beispiel nach ­Rumänien gehen, da gibt es auch tolle Standorte. Da fliege ich aber nach Bukarest und sitze noch mal drei Stunden im Auto. Dadurch geht ein Tag verloren. Das ist ein ganz wichtiger Punkt“, erklärt Markus Krammer, seit der Gründung von Nfon Lda. im September 2020 Managing Director der portugiesischen Niederlassung und seit Kurzem auch Chief Product Officer der Nfon AG.

Er war federführend am Aufbau des Development Centers beteiligt. Selbstverständlich wurden auch die MINT-Absolventen einkalkuliert, insbesondere die zur Verfügung stehenden Softwareentwickler, ebenso wie Arbeitsethik, Kultur oder die Work-Life-Balance. „Diese Faktoren haben wir bewertet. Und dann gab es eine Shortlist, auf der standen Spanien und Portugal. Relativ schnell ist es dann Portugal geworden“, so Krammer.

Das Land hat ihn – und infolgedessen Nfon – aber auch auf anderem Weg überzeugt: „Portugal hat uns mit seiner Denke inspiriert. Es gibt circa 260 Millionen Menschen, die Portugiesisch sprechen. Hier sind Menschen aus Brasilien, aus Mosambik, Angola, Osttimor usw. Wir haben selbst fünf Brasilianer im Team. Portugiesen denken global, sie denken auch in anderen Zeitzonen. Das ist von unschätzbarem Wert, gerade wenn man Innovationen angehen und außerhalb festgetretener Pfade denken möchte. Das sind Fähig­keiten und Eigenschaften, die die Menschen in diesem Land mitbringen.“

Trotz der guten Ausgangsbedingungen läuft aber auch in Portugal das Recruiting nicht von selbst. Wie in anderen Ländern ist es gerade den Portugiesen im Technologiesektor wichtig, voranzukommen und Karriere zu machen. Krammer dazu: „Man muss ihnen klar sagen können, welche Karrierechancen man ihnen bieten kann.“ Zudem gäbe es gerade für Unternehmen aus Mitteleuropa ein paar Unterschiede zu beachten:

„Ein Recruiting-Prozess dauert hier drei bis vier Wochen, maximal. In dieser Zeit kriegst du in Deutschland vielleicht die Einladung zum Vorstellungsgespräch. Das ist anders, und das mussten wir auch lernen und uns anpassen. Wenn wir zum Beispiel jemanden gefunden hatten und ich den Lebenslauf weitergegeben habe, dann kam teilweise nach einer Woche die Anfrage des Kandidaten, wie es denn jetzt aussieht. Der Recruiting-Agent in Deutschland hatte das aber erst für die nächste Woche auf dem Radar. Dann ist der Kandidat weg. Das können wir jetzt viel besser.“

Die Gesellschaft verändert sich
Ein umkämpfter Tech-Arbeitsmarkt ist mittlerweile auch in Portugal an der Tagesordnung, gute Softwareentwickler sind gefragt. Und diese Tendenz steigt mit jedem neu gegründeten Start-up oder angesiedelten Unternehmen. „Auch unsere Mitarbeiter:innen hier werden sicher vier bis fünf Mal in der Woche von Headhuntern angesprochen. Also musst du ein gutes Klima erzeugen, dafür sorgen, dass sie sich wohlfühlen, damit sie sich gar nicht erst darauf einlassen“, so Markus Krammer.

Das betrifft nicht nur einzelne Unternehmen, sondern das gesamte Land – Stichwort „Brain-Drain“. „Die Gesellschaft verändert sich. Auch die jungen Studenten verändern sich, und sie haben andere Vorstellungen als die Kommilitonen vor fünf Jahren. Vor zehn Jahren blieben 95 Prozent der Studenten in Portugal. Aber jetzt ändern sich die Dinge“, erklärt Nova-Vizedekan José Paulo Santos.

„In der Regel tendieren die besten Studenten dazu, ins Ausland zu gehen. Selbst wenn sie von einem portugiesischen Unternehmen eingestellt werden, gehen sie ins Ausland, wenn das Unternehmen eine Niederlassung im Ausland hat. Sie sehen es als Herausforderung und wollen die Welt kennenlernen. Das könnte ein Problem für Portugal darstellen“, so Santos. Doch oft sei das nicht von Dauer, schränkt er ein: „Nach etwa zehn bis 15 Jahren beginnen sie darüber nachzudenken, sich wieder in Portugal niederzulassen.“ Wer könnte es ihnen auch verdenken. Schließlich hat das Land wahnsinnig viel zu bieten. (RNF)


INFO-BOX
„Portugal hat uns inspiriert“
Das Interview mit Markus Krammer, Managing Director der portugiesischen Niederlassung von Nfon und seit Kurzem auch Chief Product Officer der Nfon AG, über die Learnings aus seiner Zeit in Lissabon finden Sie im Internet vollständig unter:

newbusiness.at/unternehmen/portugal-hat-uns-inspiriert