Testturm mit Aussicht

NEW BUSINESS Guides - FACILITY-MANAGEMENT-GUIDE 2019
17.000 Quadratmeter Glasgewebefaser verleihen dem Turm nicht nur das gewisse Etwas, sondern schützen ihn auch vor Sonneneinstrahlung und Wind. © thyssenkrupp Steel Europe

In dem verschlafenen deutschen Städtchen Rottweil entwickelt und prüft der deutsche Konzern thyssenkrupp Aufzugssysteme für Gebäude mit einer Höhe von über tausend Metern ...

... Die Lifts der Zukunft werden wie die Magnetschwebebahn Transrapid funktionieren.

Bis vor wenigen Jahren war die verschlafene baden-württembergische Stadt Rottweil für einige alte Gebäude und für das Denkmal des nach ihr benannten Hundes bekannt. Das hat sich inzwischen geändert: „In Rottweil steht der 246 Meter hohe thyssenkrupp-Testturm, der weltweit zweithöchste Testturm für Aufzugsanlagen“, ist im Onlinelexikon Wikipedia zu lesen. Die Konstruktion, die dem Test und der Zertifizierung von Hochgeschwindigkeitsaufzügen dient, erfüllt auch eine touristische Aufgabe, bietet sie doch in luftiger Höhe auf 232 Metern die höchste Besucherplattform Deutschlands – immerhin um rund 80 Meter höher als die Aussichtsterrassen des Wiener Donauturms.
Das aus 14.000 Tonnen Beton errichtete Ungetüm, das so machen Besucher an den Turmbau zu Babel, andere an einen überdimensionierten Bohrer erinnert, ist ein „Kind“ des in Chicago lebenden deutschen Stararchitekten Helmut Jahn. Entstanden ist der Turm, dessen Schaft einschließlich der Tiefgeschoße eine Gesamtlänge von 275,5 Metern misst, zwischen 2014 und 2017. Er ist das weltweit bisher einzige Bauwerk, das sich durch ein Schwingungspendel im Inneren des Turmschafts selbst in Schwingungen versetzen kann, um reale Windangriffe simulieren zu können.

Eine neue Generation von Aufzügen
Die ursprüngliche Definition für einen Aufzug enthält nur drei Kriterien: Die Förderhöhe muss mindestens 180 Zentimeter betragen, die Aufzugskabine muss teilweise geführt sein, und es muss mindestens zwei feste Zugangsstellen geben. Nun, diese Definition ist schon seit Jahrzehnten veraltet, seit es Seilbahnen, Skilifts und Rolltreppen gibt.
Woran forschen die Fachleute des deutschen Konzerns in Rottweil? Zum einen geht es beim gigantischen Turm um Geschwindigkeit: In künftigen Wolkenkratzern sollen sich Aufzüge mit bis zu 15 Meter pro Sekunde bewegen. Dafür braucht man 100 Meter Beschleunigung und 100 Meter Bremsweg. Im Rottweiler Testturm „bleiben“ für die Höchstgeschwindigkeit bescheidene 30 bis 40 Meter, je nachdem, welcher der zwölf Schächte benützt wird.
Aber zum anderen wird in Rottweil an einer völlig neuen Generation von Aufzügen geforscht. Sie werden keine schweren Stahlseile mehr mitführen, die bisher die Länge der Schächte begrenzen. Die Kabine soll berührungslos von Kräften bewegt werden, die durch Magnetfelder erzeugt werden. Abstürze sind künftig dank stark bremsender Wirbelströme ausgeschlossen.
Und zum dritten eröffnen die in Rottweil auf dem Prüfstand stehenden Entwicklungen völlig neue Perspektiven für Städte: „‚Multi‘ kann auch horizontal fahren“, sagt Forschungsleiter Thomas Ehrl, der das „Multi“ genannte Projekt gemeinsam mit Projektleiter Markus Jetter in der TV-Sendung „Galileo“ vorgestellt hat. Damit könnten Wolkenkratzer in luftiger Höhe miteinander verbunden werden. Mit noch etwas mehr Fantasie könnte man sich auch ein Transportsystem vorstellen, das den Fußgängern den Boden überlässt.

Es wird immer komplexer
Dabei wird Aufzugfahren immer komplexer. Um in immer höheren Gebäuden eine effiziente Beförderung zu ermöglichen, kommen technologisch ausgereifte Transportsysteme zum Einsatz: Schon vor dem Einsteigen wählt der Passagier sein Ziel, lässt seine Route durch Algorithmen berechnen, muss dann den ihm zugewiesenen Aufzug erwischen und später an Knotenpunkten umsteigen. Der weltweit übliche Seil­aufzug kommt bei Höhen über 1.000 Metern an seine Grenzen. Die Kabine ist an Stahlseilen aufgehängt, die oben am Schacht über eine Treibscheibe laufen. Am anderen Ende der Seile hängt das Gegengewicht – dreht sich die Treibscheibe, bewegt sie Kabine und Gegengewicht in entgegengesetzte Richtungen.
Die heutigen Liftanlagen in Giganten wie dem Burj Khalifa in Dubai, dem mit 828 Metern derzeit höchsten Gebäude der Welt, oder dem 508 Meter hohen Taipei 101 in Taiwans Hauptstadt Taipeh bewegen sich schon mit beacht­lichen Geschwindigkeiten von 17 Metern pro Sekunde. Aber trotzdem müssen die Anlagen auch anderweitig optimiert werden. Sie könnten mit einem in die Vertikale gedrehten Bahnnetz verglichen werden: Expresslifts übernehmen den Transport über lange Strecken, zum Beispiel in eine sogenannte Skylobby. Dort steigen die Passagiere um zum Regionalverkehr, und kleinere Lifts bringen sie an die gewünschte Endhalte­stelle. „Bis zu dreimal Umsteigen kann bei sehr hohen Gebäuden erforderlich sein“, zitiert wissenschaft.de Rüdiger Appunn, der als Ingenieur am Institut für elektrische Maschinen der TH Aachen an modernen Aufzugskonzepten forscht.

Paternoster Reloaded
Seit Jahrzehnten forschen Aufzugsbauer an einem System, das weniger umständlich und raumsparender ist. Man glaubt, die Lösung im Linearmotor gefunden zu haben, wie er im „Transrapid“ eingesetzt wird. Damit könnte das sogenannte kontinuierliche Aufzugssystem Realität werden. „Das ist so etwas wie der heilige Gral der Aufzugstechnik“, sagt Markus Jetter. Dabei handelt es sich um ein System, bei dem eine Kabine nicht fest an einen Schacht gebunden ist – so wie beim guten alten Paternoster: links hinauf, rechts hinunter.
„Der Paternoster ist eines der besten Transportsysteme für Menschen innerhalb von Gebäuden, das je erdacht wurde“, schwärmt Jetter. Allerdings musste man Abstriche bei Geschwindigkeit, Sicherheit und maximaler Förderhöhe machen. Eine Kombination von Paternoster und Kabinenaufzügen wäre also ideal. Denn das ganze System gewinnt an Flexibilität, sobald ein Fahrkorb den Schacht wechseln kann. Mit Seil­aufzügen geht das nicht. Selbst wenn es technisch möglich wäre, die an einem Seil aufgehängten Kabinen in einen anderen Schacht umzusetzen, käme es zu einem Stahlseilgewirr, sobald mehrere Kabinen pro Schacht unterwegs wären. Also: Der Antrieb muss sich bei jeder Kabine „an Bord“ befinden.

Allheilmittel Linearmotor
Der Linearmotor wird gegenwärtig als Allheilmittel betrachtet. Für das Rottweiler Modell kommt laut Rüdiger Appunn „nur ein sogenannter Langstator-Synchronlinearmotor infrage“. An Bord der Aufzugskabine befinden sich dabei Permanentmagnete, die als Läufer fun­gieren. An der Schachtwand ist das Gegenstück angebracht: der Stator. Er besteht aus Hunderten individuell ansteuerbarer Kupferspulen, die über die gesamte Länge des Schachts in einer Linie angeordnet sind. Über das bei Stromfluss durch die Spulen entstehende Magnetfeld werden die an der Kabine angebrachten Permanentmagnete angezogen beziehungsweise abgestoßen – und bewegen sich dadurch bei richtiger Taktung entlang des Stators.
Der Antrieb fungiert beim neuen Konzept gleichzeitig als Bremse: Die Kupferspulen können im passiven Zustand, wenn also gerade keine Kabine vorbeifährt, standardmäßig so kurzgeschlossen werden, dass sie als Wirbelstrombremse wirken und einen abstürzenden Fahrkorb abfangen könnten. Zusätzlich müssen allerdings auch rein mechanische Bremsen entwickelt werden, als doppelte Sicherung.

Der Fahrstuhl der Zukunft
Das Aufzugssystem der Zukunft besteht aus mehreren Kabinen pro Schacht und ermöglicht sowohl eine vertikale als auch eine horizontale Bewegung durch das Gebäude. Da die Aufzugskabinen frei schweben und nur durch magnetische Kräfte getragen und bewegt werden, können in einem einzigen Schacht etliche davon gleichzeitig fahren. So lassen sich viele Menschen schnell nach oben oder unten bringen – ein entscheidendes Kriterium für Wolkenkratzer, die künftig über 1.000 Meter hoch sein sollen. Gar nicht zu reden von der Platzein­sparung.
Rüdiger Appunn schätzt, dass die Installation eines Linearmotoraufzugs bis zu dreimal so viel kostet wie der Einbau einer herkömmlichen Seilanlage. „Doch die höheren Einnahmen durch die größere vermietbare Fläche machen das langfristig locker wieder wett“, meint der Aufzugsforscher. Er rechnet mit rund zehn Jahren, bis man mit Transrapidtechnik auf die Spitze der höchsten Wolkenkratzer schweben kann.
Übrigens: Der Panoramalift in Rottweil fährt „nur“ mit acht Metern pro Sekunde in 232 Meter Höhe hinauf. Und: Er funktioniert noch mit herkömmlicher Technik. (RNF)

INFO-BOX

Rekordtempo auch beim Bau
Der im Oktober 2017 eröffnete thyssenkrupp-Testturm in Rottweil wurde in seinem ersten Jahr bereits von rund 200.000 Besuchern bevölkert. Er wurde in Rekordtempo errichtet: In Spitzenzeiten trotzten bis zu 150 Arbeiter Wind und Wetter, um das höchste Gebäude Baden-Württembergs fertigzustellen. Am 7. Oktober 2017 feierten thyssenkrupp Elevator und die Stadt Rottweil mit Prominenten einen luftigen Rekord: Fast genau drei Jahre nach dem ersten Spatenstich wurde die Besucherplattform in der obersten Etage der eleganten Konstruktion der Öffentlichkeit übergeben. Der Turm bringt 40.000 Tonnen auf die Waage – so viel wie 8.000 Afrikanische Elefanten. Es wurden 15.000 Kubikmeter Beton und mehr als 2.500 Tonnen Stahl verbaut. Für die textile Architektur haben Industriekletterer den Turm im Rund-um-die-Uhr-Schichtdienst in knapp 17.000 Quadratmeter Glasgewebefaser eingehüllt. Das polymerbeschichtete Gewebe verleiht dem Bau nicht nur das ­gewisse Etwas, sondern schützt ihn auch vor intensiver Sonneneinstrahlung und reduziert die Eigenbewegung des Gebäudes, indem es die Kräfte des Windes zerlegt.

INFO-BOX
MULTI macht mobil
Zu den Zukunftstechnologien, die in Rottweil getestet werden, zählt insbesondere die neueste Aufzugsgeneration, der MULTI. Im Testturm sind drei der zwölf Turmschächte für das neue MULTI-System vorgesehen. Als Antrieb kommt die Magnetschwebetechnologie aus dem Transrapid zum Einsatz. Diese hat eine Vielzahl von Vorteilen: Durch die seillose Konstruktion können – gleich einem modernen Paternoster – mehrere Aufzugskabinen in einem Schacht betrieben werden. Das erhöht die Beförderungskapazität um bis zu 50 Prozent und reduziert gleichzeitig den Platzbedarf des Aufzugs im Gebäude. Dazu können sich die Aufzüge sowohl seitwärts als auch ohne Limit in die Höhe bewegen.