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Manege frei für Holacracy!

NEW BUSINESS - NR. 5, JUNI 2021
Ideen und innovative Lösungen werden in flachen Hierarchien schneller gesehen. © Adobe Stock/Kurt Kleemann

Keine Lust mehr auf hierarchische Strukturen, bürokratische Prozesse und elendslange Meetings? Dann tauchen Sie ein in die fantastische Welt der Rollen, Kreise und Domains.

"Was haben die sich denn da jetzt schon wieder ausgedacht?“ So ungefähr sah Valerie ­Bauers Reaktion aus, als sie kurz vor Karenzende vom neuen Organisationssystem erfuhr, das in ihrer Abwesenheit bei ihrem Arbeitgeber, dem IT-Dienstleister ONTEC, eingeführt wurde. Unendlich viele Meetings ohne wirkliche Veränderungen für das Unternehmen, das war das Vorurteil, das die Marketingverantwortliche hatte, als sie zum ersten Mal vom Holacracy-Konzept hörte. Mitten in der Corona-Krise – im Sommer 2020 – wechselte Bauer also von der Babypause ins Homeoffice und versuchte, sich in ihrer neuen Arbeitswelt zurechtzufinden. Das mit den vielen Meetings bewahrheitete sich schnell – überraschend war aber der konstruktive und strikte Ablauf, den sie erstmal erlernen musste. Aber nicht nur der Ablauf war ihr vorerst fremd – schnell stellte sie sich die Frage: „Und wer erklärt mir eigentlich dieses System?“ 

Holacracy: Das Gegenstück zu Hierarchie und ­Bürokratie 
Die Eckpfeiler von Holacracy (zu Deutsch: Holakratie) sind schnell erklärt: Es handelt sich dabei um ein Konzept für agiles Organisieren, das sich durch eine spezielle Herangehensweise an Aufgabenverteilung, Hierarchien, Entscheidungsfindung und selbststeuernde Teams auszeichnet. Eingeführt wurde der Holacracy-Ansatz im Jahr 2007 vom Softwareentwickler Brian Robertson als Gegenstück zu vielen bürokratischen und hierarchischen Formen der Unternehmensführung. Das Markante: Holacracy überträgt die Verantwortung und Entscheidungsgewalt auf Mitarbeiter. Hier wird also schon die flache Organisationsstruktur ersichtlich, durch die innovativen Ideen und Lösungen schnell Aufmerksamkeit zuteil wird, was wiederum die Organisation wendig und handlungsorientiert macht. 
Ein weiterer essenzieller Faktor für dieses Konzept ist die Zweckorientierung: Die Organisation muss sich dessen bewusst sein oder werden, was für eine Organisation sie sein und was sie bewirken möchte. Das höhere Ziel muss also ausformuliert werden. Fragen, die dabei helfen können, ein Rahmengerüst zu finden: Was ist ihre Daseinsberechtigung als Organisation? Welche Veränderung möchte sie in der Welt bewirken? Alle Mitarbeiter widmen sich nun genau diesem Zweck, das heißt, es wird nur an Projekten und Aufgaben gearbeitet, die dem Zweck der Organisation entsprechen. Was sehr streng klingt, hat aber einen Sinn: die Entstehung von Silodenken (also starkes Abteilungsdenken und -handeln) soll verhindert und der Zusammenhalt der Mitarbeiter gestärkt werden. Zudem motiviert es die Mitarbeiter, ein gemeinsames höheres Ziel zu haben, und hilft bei Entscheidungsfindungen, da die Grenzen abgesteckt sind, innerhalb derer Mitarbeiter selbst entscheiden können.
 
Von Rollen, Kreisen und Domains
Auch Valerie Bauer hat die Struktur schnell durchschaut und bezeichnet sich heute sogar als ausgesprochener Fan: „Es dämmerte mir, dass Holacracy doch mehr sein könnte als ein einfacher Marketinggag. Auf einmal hatte ich nicht nur die Möglichkeit, in meinem eigenen Bereich Entscheidungen zu treffen, sondern auch an der Unternehmensgestaltung selbst ganz direkt mitzuwirken“, zeigt sie sich begeistert. „Meine Wahl zum ‚Secretary‘ meines Kreises – einer fest definierten Rolle im Holacracy-System, die auf Zeit gewählt wird – brachte mich dazu, mich noch intensiver mit unserer neuen Organisationsform auseinanderzusetzen“, erklärt sie und führt uns damit gleich in die nächste wichtige Eigenheit des holakratischen Systems: Während in traditionellen Organisationen die Verantwortlichkeiten oft noch in Stellenbeschreibungen definiert sind und nur wenigen Veränderungen im Laufe der Zeit unterliegen, basiert Holacracy auf flexiblen Rollen, die im jeweiligen Moment benötigt werden. Eine Rolle hat einen bestimmten Zweck („Purpose“), der sich am Zweck des Unternehmens ausrichtet, und beschreibt das Ziel, die Verantwortlichkeiten und die Domains. Unter Domains kann man sich eine Art Eigentumsrecht vorstellen, das zu einer bestimmten Rolle gehört – beispielsweise könnte eine „Social Media“-Rolle die Domain „Twitter Account des Unternehmens“ besitzen. Wenn eine Rolle eine bestimmte Domain besitzt, kann sie damit alles tun, ohne dass es dafür der Zustimmung Dritter bedarf. Wichtig ist dabei: Rollen und Personen sind zwei unterschiedliche Dinge. Ein Mitarbeiter kann mehrere Rollen gleichzeitig ausüben. Es können aber auch mehrere Mitarbeiter dieselbe Rolle übernehmen. Es muss nur Einigkeit darüber herrschen, wer welchen Fokus hat. Eine Gruppierung von Rollen, die von der Logik her zusammenpassen, nennt sich in der holakratischen Sprache ein Kreis. Jeder Kreis hat feste Kernrollen (Facilitator, Secretary, Lead Link und Rep Link) sowie weitere Rollen, die die Arbeit verrichten. Rollen werden über einen kollektiven Governance-Prozess regelmäßig neu definiert, um sie den sich ständig ändernden Anforderungen des Unternehmens anzupassen.

Wenn Skeptiker:innen enthusiastisch werden
Wenn sich das alles für Sie noch relativ kompliziert anhört und Sie zweifeln, dann sind Sie in guter Gesellschaft. Bei der ONTEC AG war Valerie Bauer nicht die einzige Skeptikerin – der Beschluss der Geschäftsführung im Jahr 2018, die Organisation auf Holacracy umzustellen, löste in vielen Mitarbeiter:innen Widerstand aus, wie sich Daniel Sieder, mittlerweile Geschäftsführer der ONTEC AG, erinnert: „Anfangs gab es bei uns sehr viele Skeptiker und Skeptikerinnen. Einige befürchteten sogar, wir würden das Unternehmen an die Wand fahren, wenn nun auf einmal jeder alles mitbestimmen darf“, so Sieder. Nach drei Jahren sieht die Welt anders aus. „Mittlerweile läuft es bei uns sehr rund. Sogar Personen, die Holacracy bei der Einführung sehr skeptisch gegenüberstanden, sagen heute, dass es unsere Effizienz enorm gesteigert hat. Gab es zu Beginn noch viel Ablehnung und nur wenige Enthusiasten, hat sich das mittlerweile umgekehrt.“ So ehrlich bleibt ­Sieder aber: „Zu Beginn haben die Meetings zwar funktioniert, aber wie der große Mehrwert hat es sich nicht angefühlt. Erst nach einiger Zeit, als die Dinge intuitiver wurden und die Effizienz stieg, haben wir mehr und mehr bemerkt, wie uns das System besser macht. Mittlerweile funktioniert die stetige Weiterentwicklung sehr gut und trotz der Anlaufschwierigkeiten gibt es einen wahrnehmbaren Kulturwandel zu einem selbstlernenden System, der immer noch andauert.“

Aller Anfang ist schwer
Aber wie stellt man sein Unternehmen auf ein holakratisches System um? Grundsätzlich ist das Holacracy-Grundregelwerk (die sogenannte Holacracy Constitution) frei im Web verfügbar und beinhaltet alle notwendigen Informationen zur Umsetzung. ONTEC holte sich aber Unterstützung vom Wiener Beratungsunternehmen und lizenziertem Holacracy Premium Provider dwarfs and Giants, denn zugegeben: Das Regelwerk muss erstmal verstanden werden. „Es hat damit begonnen, dass Peter Lehner, einer der damaligen ONTEC-Vorstände (Anm.: jetzt im Aufsichtsrat) im Rahmen einer Schulung von dwarfs and Giants vom Konzept Holacracy erfahren hat. Da es schon damals den Bedarf gab, unsere Meetings effizienter zu gestalten, entstand gemeinsam mit dem restlichen ONTEC-Management die Idee, das Holacracy-Meetingsystem zu übernehmen“, erklärt Sieder. Schnell wurde klar, dass zwar die Meetings effizienter wurden, aber isoliert angewendet und aus dem Zusammenhang von Holacracy genommen, viele lose Enden offen ließen. Der nächste logische Schritt war daher, Holacracy komplett bei dem Unternehmen einzuführen. „2018 haben wir ein Einführungsprojekt gestartet, das durch dwarfs and Giants begleitet wurde.“ Zu Beginn hat ONTEC ein „Shadowing“ eingeführt, eine Art Tandemsystem bei dem die Inhaber:innen der Standard­rollen einander in die jeweiligen Meetings der anderen begleitet haben. Damit sollten die unterschiedlichen Rollen und typischen Prozesse integriert werden. So konnte sich gegenseitig Feedback gegeben und Verbesserungspotenziale aufgezeigt werden. Von da an nahm alles seinen Lauf. 

Wofür das Ganze?
Lohnt sich der Umstieg denn wirklich? Wie alles auf der Welt, hat auch dieses Konzept seine positiven und negativen Seiten. Wenn man die vielen Regeln und die Komplexität in Kauf nimmt, warten vielversprechende Benefits auf das Unternehmen: flexibler und schlagkräftiger auf Veränderungen zu reagieren, Talente besser zu nutzen, das Gefühl sinngebender und intrinsischer Motivation zu steigern und einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten etwa. 
Für Daniel Sieder war der größte Benefit und die Veränderung, die ONTEC am stärksten gespürt hat, eine unglaubliche Effizienzsteigerung. „Meetings, die vor der Einführung von Holacracy manchmal Stunden gedauert haben und wenig hervorgebracht haben, dauern nun bei wesentlich besserem Output weniger als eine Stunde.“ Außerdem sei jedem klar, wer in welcher Rolle für welche Aufgaben zuständig ist. „All das hat sich insbesondere bei der schnellen Umstellung auf Remote Working im Zuge der Corona-Krise gezeigt. Meiner Ansicht nach gibt es kein Organisationssystem, das in dieser Situation derart effizient gewesen wäre wie Holacracy“, ist er sicher. Diese Meinung teilt auch Neo-Fan Valerie Bauer: „Das System hat uns ermöglicht, schnell und flexibel zu reagieren. Alle Strukturen waren schon da und wir mussten sie nur noch virtuell umsetzen. Die regelmäßigen Tacticals (Anmerkung: Meetings für Kreismitglieder, um operative Daten, Themen und Aktualisierungen sichtbar zu machen) helfen dabei, den Kontakt und das Zugehörigkeitsgefühl zur Firma nicht komplett zu verlieren.“
Und weil immer etwas zu tun ist, führt ONTEC derzeit eine kontinuierliche Messung zum Holacracy-Reifegrad des Unternehmens ein, die in die bestehende Mitarbeiterzufriedenheitsumfrage integriert werden soll. Aus den Ergebnissen sollen sinnvolle Maßnahmen abgeleitet werden, um Holacracy bei uns stärker zu verankern“, teilt Daniel Sieder seine Pläne mit. Es ist eben alles ein Prozess. (VM)

BUCH-TIPP
Brian J. Robertson: Holacracy. Ein revolutionäres ­Management-System für eine volatile Welt
Verlag Franz Vahlen, 2016,
205 Seiten, € 24,90, ISBN 978-3-8006-5087-3

INFO-BOX
Weiterführende Links zu Holacracy:
www.holacracy.org/constitution
www.ontec.at/holacracy
www.dwarfsandgiants.org