Mit modernsten Technologien lässt sich in der Industrie schon heute vieles bewerkstelligen, das noch gestern nach Hirngespinsten von (über)morgen geklungen hat. © Ali Pazani/Pexels
KI und Machine-Learning klingen für viele noch immer nach Sci-Fi. Was aber können diese Technologien bereits heute für Industrieunternehmen beitragen ...
... und welchen konkreten Nutzen haben solche Projekte? NEW BUSINESS hat den KI-Experten Jan Nößner von Nagarro befragt.
Studien sprechen von durchschnittlich 39,64 Prozent Wachstum für künstliche Intelligenz (KI) bis 2027 im europäischen Markt. Eine vielversprechende Kurve. Aber wie deckt sich diese Prognose mit der Realität? Eine Frage, die auch die heimischen IT-Dienstleister beschäftigt. Beim Digitalisierungsunternehmen Nagarro setzt man pragmatisch an. „Die Ausgangsfrage ist für uns immer, welches Problem man lösen möchte. Will ich die Performance verbessern, die Qualität steigern, bessere Forecasts? Ein schrittweises, agiles Vorgehen gibt Sicherheit und steigert den Erfolg“, sagt Nagarros KI- und Machine-Learning-Experte Jan Nößner.
Seit rund einem Jahr unterstützt der international erfahrene KI-Experte Unternehmen am Nagarro-Standort in Wien. Dafür werden auch die globalen Ressourcen des Unternehmens eingebunden. Warum KI gerade jetzt Fahrt aufnimmt, erklärt Nößner so: „KI bzw. Machine-Learning kann heute wirklich faszinierende Probleme lösen, die man vorher nicht lösen konnte. Mithilfe fertiger, einsatzbereiter Komponenten, wir nennen das ‚Acceleratoren‘, ist die Umsetzung von Standardszenarien einfacher und schneller möglich.“
Welche Szenarien das sind, lässt sich nicht über einen Kamm scheren und wird im Anlassfall gemeinsam evaluiert. Gerade in Industrieumgebungen sind es häufig Anwendungen zur Produktionsoptimierung anhand von Bilderkennung, Forecasts oder sensorische Datenanwendungen, die nachgefragt werden. Aber Hersteller nutzen KI auch, um neue Wege in der Kundenbetreuung zu gehen. So realisierte Nagarro für den weltgrößten Hersteller von Türschließanlagen eine Chatbot-Lösung, um das Callcenter-Ticketaufkommen zu reduzieren. „Bei einem hohen Aufkommen an Kundenanfragen oder Partner-Requests kann KI gute Dienste leisten. Chatbot-Lösungen nehmen den Teams die häufig gestellten Fragen ab und veranlassen eine nahtlose Übergabe an den menschlichen Kundenbetreuer, sobald es erforderlich ist“, erklärt der KI-Experte.
# 1 Produktionsoptimierung anhand von Bilderkennung
Jan Nößner gibt im Gespräch mit NEW BUSINESS Beispiele dafür, was heute mit KI und Machine-Learning bereits möglich ist. Als Exempel dient die Mustermann AG, ein Zulieferer von Maschinenbauteilen. Das Unternehmen steht vor einem Problem: Seine Kunden stellen einen immer höheren Anspruch an die Präzision der hergestellten Bauteile. Auf herkömmlichem Weg den Ausschuss – teilweise sogar noch manuell – zu erkennen, bindet enorm viele Ressourcen. Die alten Systeme sind den Anforderungen der Kunden einfach nicht mehr gewachsen. Die Lösung ist ein Bilderkennungssystem, das über Machine-Learning in der laufenden Produktion von den erfahrenen Mitarbeitern angelernt werden kann und so laufend besser wird. Schnell amortisieren sich die Kosten, der Output und die Kundenzufriedenheit steigen. „Es geht aber nicht darum, Mitarbeiter zu ersetzen, sondern sie zu unterstützen. Sie sollen von Routineaufgaben freigespielt werden. Ihre Expertise ist weiterhin wesentlich, um das System noch zu verbessern“, erklärt AI-Experte Jan Nößner.
Im Connected Enterprise Demo Lab in Wien, wo Nagarro verschiedene Anwendungsfälle neuester Technologien praxisnah präsentiert, dient eine beispielhafte Cookie-Factory als Anschauungsobjekt. „Mit Kameras wird überprüft, ob der Cookie genug Schokolade enthält. Wenn nicht, wird er ausgesondert. Wenn doch, zur nächsten Station weitergeleitet. Die Qualitätskontrolle ist für klassische Produktionsbetriebe einer der Hauptanwendungsfälle. Mit einer KI lassen sich dann auch weitere Sensoren und Daten kombinieren“, so Nößner. Anwendung finden verwandte Lösungen unter anderem bereits bei Nagarro-Kunden wie einem Mautstellenbetreiber, der Nummernschilder validiert. „Die Herausforderung dabei ist, dass man die Nummernschilder sehr schnell erkennen muss.“ Auch bei einem Automobilhersteller ist ein solches System im Einsatz, das Fahrzeuge mithilfe eines angeleiteten Bilderfassungsprozesses auf Schäden untersucht.
# 2 Optimale Lagerhaltung
Zurück zur Mustermann AG. Wie jedes andere produzierende Unternehmen auch kennt die Mustermann AG das Problem der optimalen Lagerhaltung. Meist hat man hierfür auch bereits Lösungen im Einsatz, basierend auf Heuristiken, welche die Geschäftsprozesse so gut es geht abdecken. Seltener basieren sie auf linearen Gleichungssystemen, welche deutlich mehr Faktoren berücksichtigen und optimieren können.
Der nächste Schritt aber sind Systeme, die auf Re-Enforcement-Learning basieren, und damit sehr viel mehr Einflussfaktoren in die Optimierung einfließen lassen können. „Das ist ein unglaublich spannender Teil von Machine-Learning. Der Maschine wird ein Ziel vorgegeben, und sie lernt selbst, es zu erreichen. Dadurch braucht sie nur eine reduzierte Anzahl anfänglicher Trainingsdaten“, so Nößner. Er vergleicht es mit den Experimenten, in denen sich eine künstliche Intelligenz selbst das asiatische Brettspiel Go beigebracht hat. Nach einer kurzen Trainingsphase mit echten Spielen ist dabei die KI sozusagen gegen sich selbst angetreten. „Vereinfacht gesagt, bekommt die KI einen Punkt, wenn sie gewinnt, und null Punkte, wenn sie verliert. So trainiert sie sich selbst.“
Bei der Mustermann AG geht es darum, dass Umrüstkosten zwischen Produkten anfallen. Sind diese Umrüstkosten höher, die Produktionskosten vergleichsweise niedrig und der Lagerbedarf gering, kann tendenziell mehr von diesem Produkt auf Lager gehalten werden. Ultimativ steigert eine optimierte Lagerhaltung nicht nur den Gewinn, da weniger unnötiges Kapital im Lager gefangen ist, sondern auch die Kundenzufriedenheit, da kritische Produkte schnell ausgeliefert werden können. „Ein System, bei dem Re-Enforcement-Lösungen eingesetzt werden, verbessert sich über die Zeit automatisch selbst. Attraktiv daran ist, dass man nicht so viele Input-Daten braucht, um das System zu verbessern. Lagerhaltung ist nur eines der Beispiele, denn selbstverständlich kann man diese Technologie auch in vielen anderen Bereichen einsetzen“, sagt Nößner.
# 3 Sensoren für Maschinenoptimierung
Heutzutage ist jede modernere Maschine mit unzähligen Sensoren und Einstellungsmöglichkeiten versehen. Auch bei der Mustermann AG produzieren diese Sensoren eine Flut an Daten, deren Mehrwert aber nicht vollständig genutzt wird. Im besten Fall werden Warnungen verschickt, wenn einzelne Faktoren, wie zum Beispiel die Temperatur, während eines Produktionszyklus überschritten werden. Mithilfe von KI und Maschine-Learning lassen sich diese Daten aber gewinnbringend nutzen.
Beispielsweise kann über die Zeit gelernt werden, welche Kombinationen von Sensordaten – denn oftmals ist die Interaktion sehr viel komplizierter als eine einfache Temperaturmessung – in absehbarer Zeit zu Problemen beim Maschinenbetrieb führen. So kann bereits eingegriffen werden, bevor das Problem auftritt – Stichwort Predictive Maintenance. Dies spart nicht nur Nerven, sondern auch Zeit und Geld. „Die Stärke von Machine-Learning ist, dass man damit deutlich mehr Faktoren kombinieren und daraus ein optimaleres Ergebnis errechnen kann, als es einem Menschen möglich wäre. Man braucht aber für das Prozessdesign auf jeden Fall das Expertenwissen um zu bestimmen, welche Faktoren in welcher Genauigkeit einbezogen werden müssen. Es ist nicht zielführend, einfach alle Rohdaten ins Machine-Learning zu stecken“, erklärt der KI-Experte.
Im optimalen Fall werden die Messwerte dieser Sensoren mithilfe von Streaming-Technologie, also eines kontinuierlichen Datenstroms, in Big-Data-Lakes abgelegt. Maschine-Learning-basierte Algorithmen greifen dann auf diese Daten zu und kreieren wertvolles Wissen, welches dann voll- oder teilautomatisiert für Entscheidungen oder das Auslösen von Aktionen verwendet wird. So können etwa Muster erkannt werden, welche initialen Einstellungen der Maschine bei welchem Produktionsteil die geringste Wahrscheinlichkeit für Fehlerteile aufweisen. Der Nutzen für die Mustermann AG: Die Daten sind ohnehin vorhanden und können nunmehr für die verschiedensten Szenarien verwendet werden, etwa zur Reduktion von Ausschussware oder für die Verbesserung von Prozessen und die Optimierung von Wartungszyklen.
# 4 Vernetzung von Daten
Auch die Vernetzung von Daten über Data-Warehouses (hauptsächlich strukturierte Daten, aber weniger flexibel, meist schon für einen bestimmten Zweck vorbereitet) und Data-Lakes (strukturierte und unstrukturierte Daten, kann flexibel für verschiedene und neue Anwendungen erweitert werden) fällt in den Bereich der künstlichen Intelligenz. Das heimische Industrieunternehmen Andritz, um zur Abwechslung auch ein konkretes Beispiel zu nennen, hat schon früh unterstützt von Nagarro entsprechende Grundlagen geschaffen. Da in den Subunternehmen täglich große Datenmengen produziert, gespeichert und ausgetauscht werden, wollte man Einblick in die notwendigen technischen, organisatorischen und strukturellen Anforderungen gewinnen.
Gemeinsam hat man die optimalen Nutzungsbereiche für Data-Lakes identifiziert, welche die Grundlage für die KI-Anwendung bereitstellen. „Für die industrielle Nutzung ist es wichtig, Messgrößen zu finden und bestimmen. So können die vernetzten Daten die Kosteneffizienz in der Produktion steigern“, weiß Nößner und ergänzt: „Man fängt mit Daten an, wenn man sie vernetzt, werden daraus Informationen, und mittels Machine-Learning-Modellen macht man aus Informationen am Ende Wissen.“ Dieses Wissen wiederum ist bare Münze wert – für Andritz, für die Mustermann AG und vielleicht ja auch für Ihr Unternehmen. (RNF)
INFO-BOX
Über Nagarro
Nagarro ist ein weltweit agierendes Unternehmen für digitale Produktentwicklung und beschäftigt 10.000 Mitarbeiter in 25 Ländern. Etwa 100 KI-bezogene Projekte realisierte Nagarro international und greift global auf rund 500 Datenspezialisten für KI-Projekte zurück. In Österreich werden Unternehmen vom Standort Wien aus durch lokale KI-Experten begleitet.
In der Umsetzung arbeitet Nagarro mit projekterprobten „Cutting-Edge“-Technologien und hat eine Reihe von schnell anpassbaren Komponenten (Acceleratoren) entwickelt, die an verschiedene Szenarien angepasst werden können. Im Rahmen eines einstündigen Inspiration-Kick-offs haben Unternehmen die Möglichkeit, umgesetzt Projekte und individuelle Möglichkeiten kennenzulernen.
www.nagarro.com