Bei Industrie 5.0 geht es nicht darum, Prozesse vollständig der Maschine zu überlassen. Vielmehr wird die Rolle des Menschen im Prozess neu definiert. © Freepik
Industrie 5.0 rückt den Menschen wieder mehr ins Zentrum. Am AIT wird untersucht, wie er in hoch automatisierten Umgebungen aktiv in den Regelkreis eingebunden bleiben kann.
Automatisierung ist seit Jahrzehnten ein zentrales Element industriellen Fortschritts. Mit dem Begriff Industrie 5.0 zeichnet sich nun eine neue Entwicklungsstufe ab, die über klassische Automatisierungsziele hinausgeht. Neben Effizienz, Produktivität und digitaler Vernetzung rücken zunehmend menschliche Fähigkeiten, Nachhaltigkeit und Resilienz in den Mittelpunkt. Forschungseinrichtungen wie das Austrian Institute of Technology (AIT) untersuchen, wie automatisierte Systeme künftig gestaltet sein müssen, um nicht nur technologisch leistungsfähig, sondern auch menschengerecht, adaptiv und nachhaltig zu sein.
Automation mit menschlichem Maß
Automatisierung im Sinn von Industrie 5.0 bedeutet nicht, den Menschen aus dem System zu entfernen, sondern seine Rolle gezielt neu zu definieren. Während frühere Automatisierungsansätze vor allem auf vollständige Prozessübernahme durch Maschinen abzielten, zeigt sich in der Praxis: Hundertprozentige Automatisierung ist selten realistisch – weder technisch noch aus Gründen der Sicherheit, Verantwortung oder Flexibilität. Stattdessen bleibt der Mensch auch in hoch automatisierten Umgebungen eine zentrale Instanz.
Hier setzt das Konzept des „Human-in-the-Loop“ an. Es beschreibt Systeme, bei denen der Mensch aktiv in den Regelkreis eingebunden bleibt – sei es zur Überwachung, zur Entscheidungsunterstützung oder zur gezielten manuellen Intervention. Der Mensch wird nicht als Störfaktor verstanden, sondern als kompetenter Partner der Technik, der mit Erfahrung, Intuition und Kontextverständnis zur Systemstabilität beiträgt. „Gerade in Situationen, die von hoher Komplexität, Unsicherheit oder ethischer Relevanz geprägt sind, zeigt sich der Wert menschlicher Beteiligung. Durch geeignete Mensch-Maschine-Schnittstellen (Human-Machine Interfaces, HMI) kann diese Rolle gezielt unterstützt werden – etwa durch adaptive Visualisierungen, Assistenzsysteme oder Interaktionsformen, die auf kognitive und emotionale Zustände Rücksicht nehmen“, erklärt Helmut Schrom-Feiertag, Forscher am AIT Center for Technology Experience.
Das AIT verfolgt diesen Ansatz in interdisziplinären Projekten, die technologische Exzellenz mit Nutzerzentrierung und Praxistauglichkeit verbinden. Ziel ist es, Systeme zu entwickeln, die nicht nur automatisch handeln, sondern auch verstehen, kooperieren und sich an wechselnde Rahmenbedingungen anpassen können. Damit leistet das AIT einen Beitrag zur Gestaltung einer zukunftsfähigen Industrie, in der Automatisierung nicht zum Selbstzweck wird, sondern als Werkzeug dient – für resilientere Prozesse, effizientere Zusammenarbeit und nachhaltige Wertschöpfung im Sinn von Mensch und Gesellschaft.
Vom Automatisierungsschub zur Mensch-Technik-Kooperation
Während Industrie 4.0 vor allem auf Vernetzung, Datenverarbeitung und autonome Systeme setzte, erweitert Industrie 5.0 diesen Fokus um die gezielte Integration menschlicher Stärken in die Automatisierungskette. Der Mensch wird nicht durch Maschinen ersetzt, sondern als entscheidende Größe in Produktions- und Entscheidungsprozesse eingebunden – etwa durch eine Interaktion mit Assistenzsystemen, durch die Überwachung komplexer Abläufe oder durch situationsabhängige Steuerung.
Das AIT erforscht in mehreren Projekten, wie dieses Zusammenspiel von Mensch und Maschine gelingen kann. Dabei stehen nicht nur technische Schnittstellen im Vordergrund, sondern auch Fragen der Nutzerakzeptanz, Arbeitsgestaltung und Systemanpassung in Echtzeit.
Technologische Grundlagen: Adaptive Systeme & intelligente Schnittstellen
Zentrale technologische Grundlage ist die Entwicklung sogenannter Human-in-the-Loop-Systeme. Dabei bleibt der Mensch aktiv in automatisierte Prozesse eingebunden, kann eingreifen, korrigieren oder optimieren. Dazu braucht es Schnittstellen, die auf menschliches Verhalten reagieren, sich anpassen und dabei verständlich und effizient bleiben. „Wir arbeiten hier an interaktiven Human-Machine-Interfaces, die Informationen in adaptiver Form bereitstellen – abhängig von Erfahrung, Kontext oder kognitiver Belastung“, so Schrom-Feiertag.
Künstliche Intelligenz unterstützt dabei die Interpretation von Nutzersignalen, etwa durch Eye-Tracking oder Stressindikatoren. Extended-Reality-Technologien (XR) ermöglichen zudem immersive Interaktionen mit realen oder simulierten Produktionsumgebungen. Zwei Anwendungsfälle verdeutlichen, wie die menschzentrierte Automatisierung im Sinne von Industrie 5.0 umgesetzt werden kann.
Adaptive Assistenzsysteme für visuelle Qualitätsinspektion
Im Rahmen der Entwicklung menschengerechter Automatisierungslösungen nach dem Prinzip der Industrie 5.0 arbeitet das Center for Technology Experience am Austrian Institute of Technology an einem innovativen Assistenzsystem für die visuelle Qualitätskontrolle in der Industrieproduktion. Ziel ist es, menschliche Fachkompetenz durch intelligente Technologie zu unterstützen, ohne sie zu ersetzen.
Besonders in komplexen Produktionsumgebungen, in denen automatisierte Fehlererkennungssysteme an ihre Grenzen stoßen, bleibt die Erfahrung und Intuition des Menschen unverzichtbar. Das vom AIT entwickelte System setzt genau hier an: Mithilfe einer Eye-Tracking-Brille wird die Blickführung der Prüfer:innen in Echtzeit erfasst und analysiert. So kann während der Inspektion nachvollzogen werden, welche Bereiche eines Bauteils bereits kontrolliert wurden und welche möglicherweise übersehen wurden. Dies reduziert das Risiko fehlerhafter Prüfungen deutlich und erhöht die Prozesssicherheit.
Das System bietet darüber hinaus einen doppelten Mehrwert: Zum einen dient es als Assistenzlösung im laufenden Betrieb, zum anderen als Trainings- und Analysewerkzeug. Während jeder Inspektion entsteht ein digitaler Schatten des Prüfprozesses, der Informationen über Blickmuster, identifizierte Fehler und Entscheidungsverläufe enthält. Diese Daten können gezielt für die Schulung neuer Mitarbeitender oder zur Prozessoptimierung genutzt werden
Zudem entstehen auf diese Weise wertvolle Datengrundlagen für die Weiterentwicklung zukünftiger KI-basierter Inspektionssysteme, etwa indem menschliche Prüfstrategien in maschinelle Lernmodelle einfließen. Durch die Kombination aus adaptiver Mensch-Maschine-Schnittstelle, nutzerzentriertem Design und intelligenter Datennutzung entsteht ein hybrides System, das die Stärken von Mensch und Maschine gezielt verbindet – ein exemplarischer Beitrag des AIT zur Gestaltung einer kooperativen, sicheren und zukunftsfähigen industriellen Arbeitswelt.
Gestenbasiertes Interaktionssystem
Im Use-Case „Gestenbasiertes Interaktionssystem für einen semiautonomen Gabelstapler“ wird für ein semiautonomes Materialtransportfahrzeug in einem Außenlager-Szenario ein gestenbasiertes Interaktionssystem vorgestellt. In solchen dynamischen Umgebungen, die durch wechselnde Wetterbedingungen, unstrukturierte Layouts und hohe physische Anforderungen geprägt sind, ist eine sichere und effiziente Mensch-Maschine-Interaktion besonders herausfordernd.
Klassische Interfaces wie stationäre Displays oder Touchscreens sind hier nicht optimal, insbesondere wenn Bedienpersonen mobil sind oder Schutzausrüstung tragen. Ziel dieses Use-Case ist die Entwicklung und Evaluation eines multimodalen, mobilen Interface, das auf natürlichen Handgesten basiert und eine intuitive, schnelle sowie robuste Steuerung eines autonomen Gabelstaplers ermöglicht.
Das System kombiniert einen sensorbasierten Datenhandschuh zur Erkennung von Gesten mit einer Smartwatch, die visuelles Feedback über erkannte Befehle und Systemstatus liefert. Die zentrale Interaktion erfolgt durch einfache, symbolische Gesten wie das Starten des Fahrzeugs, das Festlegen von Ladepunkten oder das Stoppen eines Vorgangs.
Die Gesten wurden im Rahmen eines nutzerzentrierten Gesten-Entwicklungsprozesses entwickelt, bei dem Testpersonen selbst intuitive Gesten für bestimmte Aufgaben vorschlugen. Die finale Auswahl erfolgte anhand einer hohen Übereinstimmungsrate, wodurch eine gute Erlernbarkeit, geringe kognitive Belastung und körperliche Ergonomie sichergestellt wurden.
Technologisch basiert das System auf einer interaktiven Schnittstelle, die Bewegungsdaten von Handschuhsensoren verarbeitet und mithilfe eines eigens trainierten KI-Modells zur zuverlässigen Erkennung von Handgesten genutzt wird. GPS-Daten der Smartwatch ermöglichen zudem eine präzise räumliche Kontextualisierung der Nutzerposition. Die Evaluation erfolgte im Feld und verglich die gestenbasierte Steuerung mit einem konventionellen Touch-Interface einer Tablet-Anwendung.
Die Ergebnisse zeigten eine höhere Mobilität, schnellere Reaktionszeiten und eine allgemein intuitivere Nutzung zugunsten des Gestensystems. Gleichzeitig wurde deutlich, dass eine klare Systemrückmeldung über die erkannte Eingabe essenziell ist – was durch ein visuelles Feedback zwischen Geste und Systemausführung gelöst wurde.
Das System bietet nicht nur einen hohen praktischen Nutzen für den sicheren und effizienten Betrieb autonomer Flurförderfahrzeuge in rauen Umgebungen, sondern lässt sich auch auf andere logistische oder industrielle Anwendungsfelder übertragen. Es unterstützt die mobile Interaktion mit autonomen Systemen, steigert Transparenz und Kontrolle und eröffnet neue Perspektiven für adaptive, lernfähige Bedienkonzepte im Bereich der Mensch-Maschine-Kollaboration. (RNF)
INFO-BOX
Über das Center for Technology Experience
Das Center for Technology Experience am Austrian Institute of Technology (AIT) beschäftigt sich mit grundsätzlichen Fragen der Interaktion zwischen Mensch und Technologie. Dabei stehen immer die Anwender:innen im Mittelpunkt.
www.ait.ac.at