Corona ist nur eine Facette

NEW BUSINESS Guides - BILDUNGS- & KARRIERE-GUIDE 2021
Psychologie- und BWL-Wissen, gepaart mit IT-Erfahrung und langjähriger Managementpraxis, haben Gertrud Hierzer nahezu perfekt auf die modernen HR-Herausforderungen vorbereitet. © RNF

Seit April ist Gertrud Hierzer als Vice President HR für T-Systems Alpine tätig. Man könnte sagen, sie hat sich über ihren gesamten Karriereweg auf diese Position vorbereitet ...

... Aber das wäre viel zu kurz gegriffen.

Ursprünglich wollte Gertrud Hierzer Architektur studieren. Schließlich wurde es aber dann doch Psychologie an der Universität Graz, kombiniert mit einem HAK-Kolleg für Betriebswirtschaftslehre. Sie kann eine abgeschlossene systemische Coaching-Ausbildung vorweisen und darf sich seit Kurzem außerdem „Digital Engineer“ nennen.

Eigentlich wollte die gebürtige Steirerin in den HR-Bereich. Doch als sie ihre Karriere als junge Mutter in Deutschland startete, „rutschte“ sie in die IT-Branche – erst als Softwareentwicklerin, später im Software-Testing – und landete schließlich im Management. So kam sie 2012 auch zu T-Systems und hatte seitdem bereits unterschiedliche Rollen im Konzern inne. International war sie zuletzt als VP Product Development in der Digital Division von T-Systems in Deutschland tätig, bevor sie 2017 als Head of Systems In­te­gration und später der Portfolio-Unit Digital Solutions eine neue Herausforderung in Österreich annahm.

Den Wunsch, im Bereich Human Resources zu arbeiten, hat die sympathische und lernhungrige Managerin aber nie aufgegeben. So hat sie sich also konsequenterweise auf die frei gewordene Stelle ihres Vorgängers Hans-Jürg Schürch beworben, als er den Konzern verlassen hat. Im April ist Gertrud Hierzer dann in die Rolle des Vice President Human Resources für T-Systems Alpine geschlüpft und ist damit auf Umwegen dort gelandet, wo sie schon immer sein wollte. Die Erfahrungen, die sie auf ihrem Weg gemacht hat, erweisen sich in dieser Position als durchaus hilfreich. Doch lassen wir sie selbst erzählen.

Frau Hierzer, Sie haben also quasi das Pferd von hinten aufgezäumt und sind so von der IT in die HR gekommen, die ihr eigentliches Ziel war.
Dazwischen war ich auch selbstständig im Interims­management tätig, mit einer eigenen Firma. Da habe ich auch HR mitbetreut, war aber noch nicht reif dafür. Damals war es mir fast ein bisschen zu eintönig. Heute bin ich so geübt im operativen Geschäft, dass ich das besser übersetzen kann als damals. Ich glaube auch, dass ich im Konzern ein bisschen als Blaupause gelte. Man hat sich ganz bewusst dazu entschlossen, die gewohnten Muster zu brechen, und sich bei der Besetzung für jemanden aus dem Business entschieden. Ich merke bei jeder Planung, dass ich viel besser unterstützen kann, eben weil ich lange operative Bereiche geleitet habe.

Ihr Wechsel kam zu einem Zeitpunkt, der gerade für die HR-Abteilungen sehr herausfordernd war bzw. ist. Corona hat alles auf den Kopf gestellt und Entwicklungen beschleunigt. Sie kommen mir wie jemand vor, der sich Herausforderungen gerne stellt. War es so gesehen gerade die richtige Zeit für Sie?
Absolut! Auch in den HR-Netzwerken geht es heute überall nur um Corona, Corona, Corona. Dabei ist das nur eine Facette der Komplexität. Wir haben auch die Globalisierung, eine riesige Wissensexplosion, und es gibt die Umweltthemen. Was ist, wenn es jeden Tag 40 Grad hat? Auch das hat einen Impact auf unsere Arbeitswelt. Für mich ist Corona gar nicht so prägnant.

Viel prägnanter ist das ganze „System Welt“, das wir uns geschaffen haben und das uns begleiten wird. Corona wird nicht vorbei sein, und das Klima wird sich nicht von jetzt auf gleich drehen. Es gibt viele Herausforderungen.

Wenn man Bei T-Systems am Wiener Rennweg durch die Gänge geht, ist es noch relativ ruhig. Wie empfinden Sie das? Wollen die Mitarbeiter wieder zurückkommen?
Das ist ein interessantes Phänomen, das ich nicht ganz greifen kann. Viele andere Unternehmen kämpfen auch damit. Als wir am Anfang ausgerufen haben, dass alle ins Homeoffice gehen sollen, waren viele unzufrieden, weil sie den direkten Kontakt zu ihren Kollegen und Kolleginnen vermissten. Und jetzt – anderthalb Jahre später – habe ich eine Anfrage bekommen in der es heißt, ich müsste Anreize schaffen, damit die Leute wieder in die Firma kommen. So etwas mache ich nicht. Das menschliche Erleben und der direkte persönliche Austausch müssen genug ziehen. Ich will nicht Äpfel in die Küche stellen, damit die Leute wieder ins Büro kommen.

Es ist unsere Aufgabe, den Leuten wieder bewusst zu machen, dass wir hier immer noch bei der Arbeit und nicht im privaten Umfeld sind. Aber wir müssen uns trotzdem etwas Gutes einfallen lassen, damit die Leute motiviert wieder zurückkommen. Es gibt viele Unsicherheiten. Erst gestern hat mir ein Schweizer Kollege gesagt, er würde gern wieder ins Büro, aber er weiß nicht, was er mit Leuten machen soll, die sich weder impfen noch testen lassen wollen. Ihm sei das viel zu riskant. Es wird spannend, was die Regierung hinsichtlich einer möglichen Impfpflicht entscheidet, um die Sicherheit für jene, die gern wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren würden, zu gewährleisten. Im Moment ist es wirklich schwierig. Der Herbst wird zeigen, was wir tun werden. Denn wir sind uns alle einig, dass wir die Leute wieder im Office brauchen.

In Deutschland funktioniert Bratwurst scheinbar sehr gut.
Das finde ich ein bisschen albern. Ich muss ehrlich sagen: Das kapiere ich nicht. Die Regierung bezahlt Kurzarbeit, jeder wird mitgenommen, koste es, was es wolle. Da verstehe ich die Reaktion der Menschen nicht ganz.

Die vorhandene Spaltung in der Gesellschaft tritt sehr deutlich in den Vordergrund. Dieser Graben ist so tief, dass sich die eine Seite nur schwer vorstellen kann, wie die andere tickt.
Eine spannende Zeit. Man kann nur jeden Tag dasitzen, achtsam zuhören und versuchen, im Kopf wendig zu bleiben. Diese Offenheit ist auch etwas, das man den Mitarbeitenden beibringen muss. Was wir alle lernen müssen, ist, unsere Ängste loszulassen, denn es wird nicht kuscheliger werden.

Ich treibe auch gern das Thema psychologische Sicherheit durch die Gänge. Man muss es schaffen, dass die Leute sich hier trauen, sie selbst zu sein. Gleichzeitig müssen sie aber ein bisschen cooler werden. Die Sicherheiten, die es vor 30 Jahren gab, die gibt es einfach nicht mehr.

Welche Sicherheiten meinen Sie damit?
Es geht um Themen wie Jobsicherheit bzw. wenn ich dieses oder jenes gelernt habe, dann reicht das bis zu meiner Pension. Ich muss nichts Neues lernen. Mein Job fällt nicht weg. Wir halten natürlich an unseren Leuten fest, aber es kann sein, dass das, was ich heute mache, morgen nicht mehr gebraucht wird. Darauf sind viele junge Leute gut vorbereitet und haben das in ihrer DNA, die Älteren tun sich damit ein bisschen schwer.

So wären wir beim Thema Talentmanagement angelangt. Welchen Stellenwert hat die Weiterentwicklung der Arbeitskräfte bei T-Systems?
Einen sehr hohen. Ich mag elitäres Talentmanagement nicht. Für mich ist jeder und jede ein Talent. Wir haben einen sehr guten Recruiting-Prozess. Wir haben uns also bei jedem, den wir einstellen, etwas gedacht. Deswegen ist es die Pflicht der Führungskräfte und auch meiner HR-Abteilung, jeden, der hier einen Anstellungsvertrag hat, als Talent zu betrachten. Vielleicht tut sich der eine leichter und der andere schwerer, aber es gibt einen schönen Satz: Für Faulheit gibt es keinen wissenschaftlichen Nachweis. Davon bin ich wirklich überzeugt. Jedes Kind will lernen, und deswegen gehe ich davon aus, dass auch jeder Erwachsene sich prinzipiell weiterentwickeln will und etwas beizutragen hat. Das System macht etwas falsch, wenn jemand aufhört, sich weiterzuentwickeln und etwas beizutragen. Also sehe ich es als unsere Verantwortung, das System wieder so aufzubereiten, dass jeder intrinsisch motiviert lernen und einen Beitrag leisten will.

Jeder in der Kette wird gebraucht. Aber jeder muss auch die Wendigkeit in seinem Kopf wiederherstellen, um sich auf die täglichen Herausforderungen einstellen zu können. Ich glaube auch wirklich, dass jeder, bevor er hier das Haus betritt, etwas Gutes beitragen will. Hier kommt sicher niemand herein und nimmt sich vor, heute bewusst und absichtlich etwas in der T-Systems „kaputtzuhauen“, weil er schlechte Laune hat. Damit aber die individuelle Arbeit in die richtige Richtung geht und eben „nichts kaputthaut“, muss die Vision des Unternehmens klar sein. Alle müssen wissen, wo wir hinwollen, damit jeder in seiner Geschwindigkeit, Kapazität und Kompetenz in die gleiche Richtung geht. Das ist die Kunst.

Das ist gar nicht einfach. Jeder Einzelne hat die besten Absichten, trotzdem kann es passieren, dass unter den Mitarbeitern eine Dynamik entsteht, die dagegen arbeitet.
Wahrscheinlich, weil die Vision interpretierbar ist. Aber nicht, wenn die Vision klar ist und bei jedem gleich ankommt. Das gibt es. Es ist keine Utopie, eine Vision so scharf zu schneiden, dass jeder das Gleiche darunter versteht. Es ist unsere Führungsaufgabe, das so klar zu formulieren, dass für jeden jeden Tag klar ist, wo es hingeht.

Vielleicht noch einmal kurz zurück zu den Änderungen, die der Katalysator Corona in der Arbeitswelt angestoßen hat, wie mehr Flexibilität: Finden Sie persönlich diese Änderungen ­positiv oder negativ?
Ich finde sie auf jeden Fall positiv. Wäre nicht Corona der Katalysator gewesen, wäre es etwas anderes gewesen. Die Entwicklung wurde dadurch natürlich ungemein beschleunigt, aber sie hat auch alle unsere Herausforderungen sehr ­plakativ aufgezeigt. Wovon ich echt übellaunig werde, ist, wenn die Leute sagen, sie wollen endlich wieder zurück zu „normal“.

Die Normalität gibt es nicht mehr, die Normalität war eigentlich das Problem. Deswegen sehe ich das als Chance, uns da wieder herauszumanövrieren. Das wird an der einen oder anderen Stelle furchtbar wehtun. Mir macht die Umwelt viel größere Sorgen als Corona. Gegen Corona kann man unmittelbar etwas tun, wie Lockdown, Masken oder Vakzine. Wenn alles brennt oder überschwemmt wird, wird es schwierig, unmittelbar etwas dagegen zu unternehmen. 

Deswegen sehe ich Corona als Chance, die ­Leute aufzuwecken und ihnen zu zeigen, dass wir etwas tun müssen. Was mich frustriert, ist, dass manche Menschen scheinbar einen Filter vor den Augen haben und das anders sehen. Es gibt immer noch unglaublich viele Leute, die behaupten, die Klimaerwärmung wäre Zufall und nicht vom Menschen gemacht. Das kann ich nicht verstehen. Trotzdem muss ich damit leben und es akzeptieren, dass viele es so sehen.

Also quasi die Pandemie als Augen­öffner für die wahren Probleme, vor denen die Menschheit steht?
Genau. Deshalb tue ich alles dafür, eben nicht wieder zur Normalität zurückzukehren. Weil ich denke, dass es das nicht mehr geben wird. Die Schwierigkeit ist, herauszufinden, wie es richtig weitergeht. Ich bin Fan von Yuval Noah Harari (Anm.: Historiker und Autor) der sagt, wir stehen an einem Scheideweg. Lassen wir die künstliche Intelligenz unsere Arbeit machen? Dann müssen wir aber schauen, dass der Mensch weiterhin eine Bedeutung hat.

Oder lässt man dem Menschen einen Platz in der Arbeitswelt? Harari sagt, dass soziale Berufe, aber auch Philosophen ein ganz anderes Gewicht bekommen werden. Viele der Entscheidungen, etwa wenn es darum geht, wie ein autonomes Fahrzeug im Fall eines Unfalls reagieren soll, sind sehr philosophisch. An diesem Scheideweg stehen wir. Ich kann nicht absehen, in welche Richtung die Menschheit sich bewegen wird.

Wenn Sie das wüssten, hätten Sie wahrscheinlich einen anderen Job.
Wahrscheinlich wäre ich dann auch Philosoph. Aber zurückkommend auf das Talentmanagement: Welche Skills zählen heutzutage? Technische Fähigkeiten wie AI-Algorithmen, Data-Analytics-Techniken oder Cloud-Computing-Fähigkeiten sind die Pflicht, Kommunikation, Kreativität, Lösungsfindung, Kollaboration und eine kritische Betrachtungsweise der Dinge aber die unbedingte Kür. 

Ich gebe gerade selbst Schulungen in agilem Mindset, weil es mir sehr wichtig ist, dass die Leute verstehen, was das eigentlich ist. Das ist nicht, Scrum (Anm.: ein Vorgehensmodell des Projekt- und Produkt­managements, ursprünglich aus der Software­entwicklung) zu beherrschen, sondern es geht um einen Paradigmenwechsel, ein Umdrehen alter tayloristischer Opti­mie­rungs­glaubens­sätze in Richtung kollektiver Intelligenz, iterativer Lösungsansätze und der Orientierung am Kundennutzen.

Ich verstehe Sie also richtig, wenn ich sage, dass es keine Rückkehr zu alten ArbeitsModellen geben wird – und bei Ihnen schon gar nicht?
Wir hatten auch schon vorher Homeoffice, wenn auch nicht so ausgeprägt wie jetzt. Also Nein, das wird es nicht geben. Wir müssen viel in die Führungskräfte investieren, die sich zum Teil mit dem virtuellen Führen und dem damit verbundenen und notwendigen Vertrauen in ihre Teams noch schwertun. Wie schaffe ich Vertrauen? Wie schaffe ich es, dass alle, auch wenn sie verteilt sind, in die gleiche Richtung gehen? Das ist ein Lernprozess, und wir sind sicher noch nicht am Ziel. Aber das ist die Zukunft.

Damit ist T-Systems nicht allein. Sehr viele Unternehmen müssen sich jetzt mit diesen Fragen beschäftigen.
Ich finde das auch gar nicht schlecht. Die Schulung, die ich angesprochen habe, mache ich über Zoom. Das hat echte Vorteile. Ich habe zum Beispiel Leute aus beiden Standorten, der Schweiz und aus Österreich, dabei. Ich sehe alle, ob sie anwesend sind, ob sie so aussehen, als hätten sie etwas nicht verstanden. Wenn sie in einem Raum versammelt wären, könnte ich mich immer nur auf jeweils einen Menschen fokussieren. Wenn jemand mit dem Kopf nicht dabei ist, wenn er etwa auf der Tastatur tippt, sieht man das sofort und kann ihn ansprechen. Für mich macht es die Aufgabe leichter. 

Das muss man in der Arbeitswelt auch richtig portioniert einsetzen. Wann hilft Zwischenmenschlichkeit in der Lösungsfindung weiter, und wann ist es effizienter, die Leute in Kacheln vor sich zu sehen und nicht dafür von Standort zu Standort zu jagen? Das muss man abwägen. Ich glaube auch, dass es manchmal effizienter ist zu Hause zu sitzen und sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Manchmal wiederum führt Teamwork in einem echten physikalischen Raum zu besseren Ergebnissen in kürzerer Zeit.

Kann man sich auf diese Zukunft der Arbeitswelt vorbereiten? Haben Sie konkrete Pläne dafür?
Mein Gedanke dazu ist, diese Wendigkeit im Kopf sicherzustellen. Ich habe ein paar Pfeiler eingeschlagen, an denen ich mich in meiner HR-Arbeit orientiere. Das eine ist eben, dass jeder ein Talent ist und in sich und seine Employability investieren muss. Ich kann nur den Rahmen dafür herstellen. Da hat die ­Deutsche Telekom einen riesigen Blumenstrauß anzubieten.

Wir haben Datenbanken, über die sie Kurse von Harvard oder einer Universität in Australien besuchen können. Wir müssen dafür sorgen, dass die Leute die Zeit dafür haben und das Angebot annehmen. Das zweite Thema ist die Stabilität in unsicheren Zeiten, ohne dass eine Firma ihre Identität verliert. Wie muss ich ein System aufstellen, dass es trotz Hagel, Wind und Sturm in seinen Grundfesten stehen bleibt? Es gibt dafür einen neuen Begriff in der ­Fachwelt, der mir sehr gut gefällt: Dynamik-Robustheit. 

Gender- und Diversity-Gerechtigkeit sind mir auch sehr wichtig. Durch Corona sind Frauen wieder zurückgerutscht, und auch Diversity wird nicht gerade großgeschrieben. Auf diese Themen setze ich einen großen Fokus. Und auf die psychologische Sicherheit. Das sind meine vier Eckpfeiler, auf die ich auch meine Kolleginnen und Kollegen einschwöre. Das ist mein Plan, um die Organisation auf die Zukunft vorzubereiten.

Was ich da herauslese, ist, dass Sie sich freuen in der HR des Konzerns aus dem Vollen schöpfen zu können.
Absolut. Die Deutsche Telekom ist HR-mäßig wirklich sensationell. Da wurde sehr viel bereits vorgedacht. Ich muss eigentlich nur noch die Dinge vom Baum pflücken. Es gibt zum Beispiel eine App für neue Mitarbeitende, mit der sie sich schon vorher über alles informieren können. Es gibt Interviews mit der Geschäftsführung, unsere Qualitätsansprüche, unsere Werte, unser Mindset. Bevor jemand zu uns kommt, ist er neugierig und hat auch Zeit dafür. Wenn er einmal da ist, ist der Drops gelutscht, und er ist sofort im Tagesgeschäft drin. Dieses Tool gibt es, wir müssen nur noch in den Content investieren. Damit sind wir in Europa ein bisschen Vorreiter. In den USA ist es schon gang und gäbe, seine neuen Mitarbeitenden so abzuholen. Wir werden das im Herbst bei uns launchen. Auch diese schon erwähnten Datenbanken mit dem Know-how, die wie Netflix aufgebaut sind. Wenn Sie ein Training zu Data-Analytics machen, bekommen Sie am nächsten Tag weitere passende Vorschläge.

Geht das dann in Richtung Self-­Service-Weiterbildung?
Ich kann dieses große Wissensangebot als Führungskraft nicht mehr selbst überblicken. Der Mitarbeiter muss selbst wissen, in welche Richtung er oder sie sich entwickeln will und was er oder sie sich zutraut. Als Führungskraft – und das dreht sich gerade – kann man nur noch den Rahmen und die Plattform dafür bereitstellen. Man muss die Kolleginnen und Kollegen ermutigen, selbstorganisiert zu sein und ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Privat tun sie das ja auch.

Auch da ist es wieder so, dass wenn man den Einzelnen fragt, ob er alles vorgekaut haben will, wird er es lieber selbst entscheiden wollen. Diese Selbstbestimmung muss man bei manchen wieder zum Leben erwecken.

Auch da geht es also wieder darum, den Schleier vor den Augen zu lüften, damit die Leute sich selbst und wo sie stehen wahrnehmen?
Genau. Dafür muss man aber auch seine Ängste loswerden. Denn es ist eine Reise. Wenn man etwas neu lernt, ist man am Anfang erst einmal wieder der komplett Unwissende außerhalb der eigenen Komfortzone. Aber es schafft Selbstvertrauen, wenn man auf das zurückschauen kann, was man lernenderweise dann doch gestemmt bekommen hat. Das haben die Jungen echt drauf. Ich weiß nicht, was die Schulen da richtig gemacht haben.

Vielleicht waren sie so schlecht, dass sie sich alles selbst beibringen mussten, was wichtig war.
(lacht) Vielleicht ist es das. Vielleicht müssen auch die Führungskräfte so schlecht werden. (lacht) Es ist wirklich krass. 20-Jährige gehen auf Sabbaticals, und der häufigste Kündigungsgrund ist, dass es nicht spannend genug war und sie nicht genug lernen konnten. Dann fügen sie ein Studium an und gehen ins Ausland. Sie bringen diesen Lernhunger mit.

Würden Sie das generell von dieser Generation sagen?
Die meisten. Fragen Sie mal die, die gerade Matura gemacht haben. Die wollen alle die beste Ausbildung haben und lernen, lernen, lernen. Was mir auch auffällt, ist, dass sie teilweise ein sehr schlechtes Selbstwertgefühl haben und sehr unsicher sind, was Kritik betrifft. Das treibt sie wahnsinnig an. Mir tut das immer ein bisschen weh, wenn ich sehe, wie unsicher manche sind, weil sie es meiner Meinung nach gar nicht nötig haben.

Und ich bin nicht die einzige, der das auffällt. Das sagen auch Kolleginnen und Kollegen. Ein zweischneidiges Schwert. Das AngetriebenSein hat positive und negative Auswirkungen. Natürlich. Man kann auch ausbrennen. Da ist wieder die Führung gefragt, um aufzupassen, dass sich niemand komplett verliert. Irgendwo muss man auch Wurzeln schlagen und an­kommen.

Was lernen Sie selbst als nächstes?
Ich muss den gewerberechtlichen Geschäftsführer machen – etwas, das mich nicht so wahnsinnig interessiert – und Schweizer Arbeitsrecht. Was das betrifft, ist die Schweiz ein anderer Planet. Das sind Pflichtlektüren. Aber mein Herz schlägt gerade stark für Kommunikation und Mediation. Ich musste meinem Mann allerdings versprechen, dass ich jetzt eine Weile nichts mache. Denn neben einem 50- bis 60-Stunden-Job geht das Lernen natürlich zu seinen Lasten und unserer privaten Zeit.

Haben Sie noch einen letzten Gedanken, den Sie gern loswerden wollen?
Ja, in der Tat. Wir kämpfen in der gesamten IT-Branche mit dem Fachkräftemangel, und das nicht erst seit gestern oder seit der Corona-Krise. Dieses Problem können die Unternehmen aber nicht allein stemmen. Da braucht es ganz dringend und rasch Unterstützung seitens der Regierung.

Es muss leichter werden, Menschen aus anderen Ländern die Möglichkeit zu geben, in Österreich zu arbeiten. Und unser Ausbildungssystem und unsere Lehrpläne müssen dringend reformiert und an die Anforderungen der Digitalisierung angepasst werden. Es gibt zwar seitens der Regierung einige Initiativen in diesem Umfeld, aber meiner Meinung nach mahlen diese Mühlen viel zu langsam. Österreich als hoch entwickelter Wirtschaftsstandort wird bei diesen Rahmenbedingungen und dieser Geschwindigkeit rechts und links von anderen Ländern geradezu überrollt. (RNF)