Das Doppelte Lottchen 4.0

NEW BUSINESS Innovations - NR.11, DEZEMBER 2020/JÄNNER 2021
Montageanlage: Schunk ermöglicht den einfachsten Einstieg in die Simulation von Handhabungslösungen. © Schunk

Der digitale Zwilling erlaubt einen Blick in die Zukunft. Planen, testen, korrigieren, optimieren – das alles geht, ohne vorher auch nur eine reale Maschine oder Anlage gebaut zu haben ...

... Das Einsatzgebiet ist aber weit umfangreicher.

Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen, ihre Gehirne sind ähnlich gebaut, funktionieren in ähnlicher Weise und bei spezifischen Talenten sind sie sich besonders ähnlich. Das wissen nicht nur Eltern von ein­eiigen Zwillingen, sondern auch die Forschung. Seit einigen Jahren sind es aber nicht nur die Genetiker und Psychologen, die sich der Zwillingsforschung verschrieben haben, sondern auch die Techniker und Informatiker, die die „doppelten Lottchen“ und ihre Besonderheiten in den Dienst von Industrie 4.0 setzen. Bislang konnte man Prototypen einfach nur bauen und sich dann Schritt für Schritt vorwärts testen. Digitale Zwillinge erlauben es, Produkte schneller zu entwerfen, zu simulieren und herzustellen, und sie ermöglichen es auch, sie je nach Wunsch besonders günstig, leistungsstark, robust oder umweltfreundlich zu gestalten. Zusätzlich kann der virtuelle Doppelgänger ein Produkt wie ein digitaler Schatten von der Herstellung über den Betrieb bis hin zum Service oder gar Recycling begleiten. Das Thema ist so vielfältig, dass es in das umfassende Vortragsprogramm der SPS Connect 2020 Ende November aufgenommen wurde.

Der digitale Zwilling im Engineering-Prozess, der digitale Zwilling in der smart Factory, der digitale Zwilling für die virtuelle Inbetriebnahme oder im Bereich Wartung und Kundendienst für komplexe elektrische Systeme – die Bandbreite der Einsatzgebiete ist lang. Und weil das Interesse am digitalen Zwilling so groß ist, hat der VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau) gemeinsam mit dem ZVEI (Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie) und 20 weiteren Firmen, darunter ABB, Bosch, Danfoss, Festo, Kuka, Lenze, Pepperl+Fuchs, Phoenix Contact, Schneider Electric, Schunk, Siemens, Trumpf oder Turck, im Herbst 2020 die „Industrial Digital Twin Association“ (IDTA) als Nutzerorganisation für Industrie 4.0 gegründet. Matthias Bölke von Schneider Electric, der zum Vorsitzenden des Vereines gewählt wurde: „Ich freue mich über das Vertrauen aller Gründungsfirmen und auf diese spannende Aufgabe. Die europäische Automatisierungstechnik besetzt – gerade im Maschinen- und Anlagenbau – weltweit Pole-Positionen, die wir mit Digitalisierung und Innovationen halten und ausbauen können. Mit der IDTA erhöhen wir jetzt unsere Anstrengungen, die Entwicklung des digitalen Zwillings als Kernelement der digitalen und materiellen Wertschöpfung zu beschleunigen. Der Schulterschluss zwischen der Elektroindustrie und dem Maschinenbau in der IDTA ist dabei besonders wegweisend.“

Einsteigerpaket von Schunk
Zu den Gründungsmitgliedern des IDTA zählt auch Schunk, Spezialist für Greifsysteme und Spanntechnik, der bereits Expertise in der Generierung digitaler Abbilder seiner Komponenten aufbauen konnte. „Die neue Nutzerorganisation und die damit verbundene Kooperation bietet die großartige Chance, dass sich die Digitalisierung der Industrie in den kommenden Jahren deutlich beschleunigt, weil sowohl die Verfügbarkeit digitaler Komponenten als auch die Investitionssicherheit in neue Technologien steigen, erläutert Timo Gessmann, Chief Technology Officer (CTO) bei Schunk.
Bereits seit Jahren forciert Schunk die Digitalisierung des Engineerings, um Konzeption, Konstruktion und Inbetriebnahme von automatisierten Anlagen zu vereinfachen. Laufen beim konventionellen Engineering Mechanik, Elektrik und Softwareprogrammierung sequenziell nacheinander ab, vereint die Welt der digitalen Simulation alle drei Disziplinen in einer Oberfläche und schafft damit die Möglichkeit, sämtliche Tätigkeiten zu parallelisieren. Das bringt Geschwindigkeit, reduziert Komplexität und Verständigungsprobleme, erhöht die Flexibilität und spart Kosten. Auch weil mögliche Fehler frühzeitig erkannt und eliminiert werden. Änderungen lassen sich innerhalb kürzester Zeit übernehmen und auf ihre Machbarkeit prüfen. Vergleichbare Folgeprojekte können somit sehr viel schneller realisiert werden, als es bislang möglich war.

Digitale Zwillinge von Schunk-Komponenten sind mittlerweile in unterschiedlichsten Softwarelösungen verfügbar. Im Rahmen einer OEM-Partnerschaft mit Siemens PLM Software bietet das Unternehmen zudem ein Einsteigerpaket, den Mechatronics Concept Designer, das eine Bibliothek digitaler Zwillinge sowie Einstiegsschulungen und einen individuellen Support bei der Nutzung umfasst. Sechs Monate lang können Konstrukteure, Programmierer und Projektierer die Simulationssoftware kostenfrei in der Vollversion testen. Sein 24-V-Mechatronikprogramm für die Hochleistungsmontage hat Schunk bereits komplett als Bibliothek digitaler Zwillinge angelegt.

Optimale Entscheidungsfindung
Auch Siemens setzt den digitalen Zwilling ein, wie z. B. beim Elektroauto „Solo“ des kanadischen Start-ups Electra Meccanica, das seit 2019 in Nordamerika auf dem Markt ist. Solo wurde mithilfe von Siemens-Softwareprogrammen für den digitalen Zwilling entworfen, simuliert und angefertigt. Das Unternehmen konnte alle Elemente, egal ob Mechanik, Elektronik, Software oder Systemleistung, mit dem digitalen Zwilling im Vorfeld testen und optimieren. Auch der Prototyp eines Sportwagens des kalifornischen Unternehmens Hackrod verdankt die futuristische Form seines Leichtbaurahmens ebenfalls einem digitalen Zwilling von Siemens.

So einfach diese Anwendungen klingen, so schwierig kann der Weg dorthin sein, denn jede Anlage wird in Form von Daten dokumentiert und die sind in der Regel auf verschiedenen Plattformen und in verschiedenen Formaten gespeichert und verteilt. Hier setzt PlantSight von Siemens an. Es konsolidiert die Anlage, indem verschiedene Datentypen und -formate (1D, 2D oder 3D) aus verschiedenen Quellen in einer einzigen „Single Source of Truth“ zusammen geführt werden. So erhält man einen vollständigen, konsistenten und lebendigen digitalen Zwilling für die gesamte Anlage. Mit einem Release im Mai 2020 wurden verstärkt die Funktionalitäten für Digital Reliability erweitert. PlantSight bietet damit die Möglichkeit, Projektinhalte wie Umbau, Erstellung oder Redesign in den Kontext des Anlagenbetriebs zu überführen. Der für den Anlagenbetrieb bereitgestellte digitale Zwilling und seine einzelnen Komponenten können somit mit Simulations- und Realtime-Daten für optimale Entscheidungsfindung im täglichen Betrieb verknüpft werden. PlantSight-Dashboards erlauben sofortigen Überblick über den Anlagenzustand mit Fokus auf die kritischen Komponenten, ohne durch Informationsüberfluss zu verwirren.

Von Insellösungen zur Tool-chain
Der Maschinenbau steht ständig unter Zeit- und Kostendruck: Liefertermine einhalten, vereinbarte Spezifikationen nicht aus den Augen verlieren und während der Inbetriebnahme noch Anpassungen an der Software vornehmen, während der Kunde wartet und urgiert. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet das Digital Engineering. Doch während die Produktion bereits zunehmend digitalisiert wird, steht die digitale Transformation bei Konstruktion und Entwicklung noch weit am Anfang. Zwar ist der digitale Zwilling inzwischen Realität, jedoch fehlt es bisher an einer durchgehenden Werkzeugkette. Lenze treibt mit Hochdruck die Anpassung und Erweiterung seiner Tools und Services voran, um diese Lücke zu schließen. Dabei setzt der Experte für die Maschinenautomatisierung auf enge Kooperation mit den OEMs.
Doch noch existieren im Entwicklungsprozess zu viele Insellösungen, die nicht in der Lage sind, mit vertretbarem Aufwand Daten miteinander auszutauschen. Ohne einen durchgängigen Informationsfluss sind die positiven Effekte des Digital Engineering jedoch nicht zu erreichen.

Es gilt also, zumindest innerhalb einer geschlossenen Herstellerwelt eine durchgängige Tool-Chain zu entwickeln, die auf einem standardisierten digitalen Zwilling basiert.
Ausgangsbasis für die Entwicklung bei Lenze sind die bekannten Werkzeuge, wie die Application Software Toolbox Lenze Fast. Dazu kommen neue Anwendungen, die speziell im Hinblick auf das Digital Engineering entwickelt werden. Den Einstieg liefert das „InA“-Konzept. Damit kann ein OEM aus mechatronischen Maschinenmodulen eine Applikation konfigurieren und parametrieren sowie die Software automatisch generieren. Mithilfe einer VR- oder Hololens-Brille lässt sich daraus eine virtuelle Maschine als Augmented-Reality-Objekt dreidimensional darstellen, die einfache Abläufe in der Simulation zeigt. Mögliche Fehler oder Probleme werden auf diese Weise bereits in einer frühen Projektphase entdeckt und können mit weniger Aufwand abgestellt werden, als wenn sie erst nach der Realisierung auffallen. (BS)

www.siemens.com
www.schunk.com
www.lenze.com
www.vdma.org
www.zvei.org
www.se.com