Die Macht der Vorhersage

NEW BUSINESS - NR. 11, DEZEMBER 2018/JÄNNER 2019
Der Blick in die Zukunft wird mittels hochkomplexer Datenanalysen zunehmend realistischer. © Fotolia/pickup

Riesige Datenmengen liefern immer präzisere Prognosen und auch die Zukunftsforschung konfrontiert uns regelmäßig mit faszinierenden Bildern aus der Welt von morgen ...

... Ist unser Schicksal etwa schon besiegelt?

Glaubwürdige Aussagen über zukünftige Ereignisse befriedigen das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit seit Anbeginn der Geschichte und ebneten den Weg für Wahrsager, Hellseher, Kartenleger und andere mystische Propheten. Ihre Existenz ist leicht begründet: Eine ungewisse Zukunft schürt Ängste und erschwert das Treffen von Entscheidungen.
Solch übersinnliche Methoden der Vorhersage gehören – zumindest im professionellen Kontext – jedoch längst der Vergangenheit an. Moderne Technologien ermöglichen einer immer größeren Anzahl an Unternehmen, zukünftige Entwicklungen mit immer höherer Genauigkeit zu prognostizieren.

Früherkennung von problematischem Kundenverhalten
Je riskanter ein Unternehmensbereich, desto wichtiger werden auch zuverlässige Zukunftsaussagen. Beispielsweise verlieren Unternehmen horrende Summen, wenn bestellte Produkte und Dienstleistungen nicht bezahlt werden. „Jede Firma hat Risikokunden. Mit einer smarten Datenanalyse kann Risikoverhalten früh erkannt und können potenzielle Verluste vorhergesagt werden“, sagt Mihai Lupu, Direktor des Research Studios Data Science der Research Studios Austria Forschungsgesellschaft (RSA FG). Um zuverlässige und brauchbare Ergebnisse zu erzielen, werden in dem österreichischen Institut Machine-Learning-Verfahren mit künstlichen neuronalen Netzen kombiniert. Daraus ergeben sich neuartige Vorhersagemodelle, die wissenschaftlich abgesichert und wirtschaftlich wertvoll sind. „Wir können Big-Data-Analysen von ungefilterten Protokolldaten von Unternehmen durchführen und aus Terabytes an Daten aussagekräftige Aspekte herausfiltern. Mit fortgeschrittenen Statistikmethoden können wir dann zuverlässige Vorhersagemodelle erstellen, um mögliche Betrugsfälle zu identifizieren“, erklärt der Experte des Instituts Bernd Ivanschitz.

Prädiktion übernimmt das Steuer
Auch in der angewandten Forschung werden Daten zunehmend genutzt, um prädiktive Aussagen zu treffen. Die Abteilung Visual Assistance Technologies des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung IGD beispielsweise arbeitet an der visuellen Analyse großer sowie komplexer Datenmengen, um damit einen Blick in die Zukunft zu wagen. „Unser Ziel ist es, die zur Verfügung stehenden Daten nutzen zu können, um zukünftige Prozesse durch präzise datenbasierte Vorhersagen optimal zu steuern“, erläutert Abteilungsleiter Mario Aehnelt. Die Chance von Big Data in der Produktionssteuerung liegt in der Möglichkeit, durch den automatisierten Abgleich mit zurückliegenden Fällen eine Aussage über zukünftige Ereignisse treffen zu können, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit tatsächlich eintreten. Ein Beispiel: Der bei der Wartung festgestellte Verschleißgrad eines Maschinenteils gibt zunächst keinen Anlass zum Handeln. Der Abgleich mit unzähligen anderen Daten ergibt allerdings, dass in der Vergangenheit Teile mit vergleichbarem Verschleißgrad vor der nächsten Wartung repariert werden mussten und einen Anlagenausfall verursachten. Dieser Prozess geschieht dank der Fraunhofer-IGD-Anwendungen in Echtzeit, dessen Ergebnis als visuelle Darstellung dem Nutzer intuitiv präsentiert wird. Mit der Prädiktion werden also Ursachen ermittelt und auf die Zukunft übertragen, um die Anwender in Anlagenbau und -wartung bei einer smarten Entscheidungsfindung zu unterstützen.

Big Data als Lebensretter
Die Analyse von Daten und daraus resultierende Aussagen über zukünftige Ereignisse, spielen vor allem eine besondere Rolle, wenn es um die Rettung menschlichen Lebens geht. Der Autohersteller Ford hat kürzlich herausgefunden, wie Big Data Städte potenziell dabei unterstützen könnte, besonders gefährdete Standorte ausfindig zu machen, die Schauplatz künftiger Verkehrsunfälle sein könnten, sofern nicht rechtzeitig vorbeugende Maßnahmen getroffen werden. In London hat der Unternehmensbereich Ford Smart Mobility im letzten Jahr auf einer Gesamtstrecke von rund einer Million Kilometer zahlreiche Daten rund um Fahrzeuge und Fahrerverhalten aufgezeichnet. Protokolliert wurden detailreiche Daten von Fahrten, wie beispielsweise Bremsvorgänge, deren Intensität oder die Aktivierung von Warnblinkleuchten. Auf diese Weise wurden Fehlerquellen und „Beinahe-Unfälle“ identifiziert. Experten von Ford verglichen die gewonnenen Informationen anschließend mit bestehenden Unfallberichten und entwickelten einen Algorithmus zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Unfälle. „Wir glauben, dass unsere Erkenntnisse das Potenzial haben, Millionen von Menschen zu helfen. Schon sehr kleine Änderungen könnten einen großen Unterschied machen, sei es in Bezug auf Verkehrsfluss, Verkehrssicherheit oder Effizienz. Mitunter reicht schon das Fällen eines Baumes, der ein Verkehrszeichen verdeckt, oder eine ähnlich einfache Maßnahme“, sagte Jon Scott, Project Lead at City Data Solutions, Ford Smart Mobility.

Große Erwartungen an bessere Vorhersagen
So viel steht fest: Wer sich nicht mit der Zukunft beschäftigt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht an ihr teilnehmen. Und diese Erkenntnis scheint mittlerweile auch in die Führungsetagen vieler Unternehmen vorgedrungen zu sein. In der Studie „Predictive Planning and Forecasting hebt die Unternehmensplanung auf die nächste Stufe“, für die 308 IT- und Planungsverantwortliche aus der DACH-Region befragt wurden, ermittelte das Business Application Research Center (BARC) den Stellenwert prädiktiver Technologien als unternehmerisches Planungswerkzeug. Das Ergebnis: Für einen Großteil der Unternehmen gewinnen die Methoden zunehmend an Relevanz. Sie erwarten sich, mit vorhersagenden Modellen die Ergebnisse der Planung und die Planungsprozesse selbst zu verbessern, um schneller zu aussagekräftigeren Ergebnissen zu gelangen.
Predictive Planning and Forecasting soll bestehende Prozesse technisch besser unterstützen (48 Prozent) und verkürzen (51 Prozent) sowie die Planer entlasten. Dafür streben die Unternehmen auch eine stärkere Automatisierung von Hochrechnungen an.
Der Fokus der Unternehmen liegt jedoch nicht auf der kompletten Automatisierung der Planung. Die Mehrheit ist zwar der Meinung, dass Predictive Planning and Forecasting genauere Prognosen liefern wird als menschliche Planer (86 Prozent), aber nur wenige erwarten dies in allen Bereichen. „Der Einsatz von prädiktiven Technologien auf Basis künstlicher Intelligenz ist in fast allen Bereichen des IT-Markts ein wichtiger Trend. Viele Unternehmen planen, diese Themen zukünftig auch in der Unternehmensplanung und dem Forecasting einzusetzen, insbesondere dann, wenn in der Planung schon ein höherer Reifegrad erreicht ist“, erläutert Christian Fuchs, Senior Analyst bei BARC und Mitautor der Studie. „Die Vorteile des Einsatzes von Predictive Planning and Forecasting sind vielfältig. Mit einem besseren Verständnis von Entwicklungen in der Vergangenheit können zukünftige Entwicklungen schneller und verlässlicher antizipiert werden, sofern erforderliche Rahmenbedingungen gegeben sind. Predictive Planning and Forecasting hat jedoch klar auch seine Grenzen und ist kein Allheilmittel für jegliche Herausforderungen im Bereich der Unternehmensplanung.“

Zukunftsforschung: Mensch vs. Maschine
Technologien zur vorausschauenden Wartung und andere prädiktive Datenanalysen sind probate Mittel, Entwicklungen oder Gefahren zu erkennen und damit Risiken zu minimieren. Dennoch braucht es menschliche Erfahrungswerte, eine kritische Beobachtungsgabe, aufmerksame Blicke über den Tellerrand und visionäre Denkanstöße, um die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.

Im Gespräch mit Harry Gatterer, Geschäftsführer Zukunftsinstitut
Dem faszinierenden Forschungsfeld Zukunft widmet sich auch Harry Gatterer. Mit dem Zukunftsinstitut, das er als Geschäftsführer leitet, verfolgt er neben der kritischen und aufgeschlossenen Betrachtung gesellschaftlicher Entwicklungen die Vision, seine optimistische Sichtweise in die Welt zu tragen. Wie es dazu kam und was die Zukunftsforschung zur unternehmerischen Orientierung beitragen kann, hat er uns im Interview erzählt.

Herr Gatterer, wie wird man eigentlich Zukunfts­forscher?
Einen direkten Weg gibt es eigentlich nicht, bei mir waren es viele Umwege. Ich habe mich schon mit 20 Jahren selbstständig gemacht, und als junger Unternehmer fragst du dich nicht: „Wie haben es die anderen früher gemacht?“ Du fragst dich: „Was könnte man Neues machen?“ Das hat mich auf die Idee gebracht, dass man sich auch explizit mit dem Thema Zukunft beschäftigen kann. Ich bin zwei Jahre lang herumgereist, habe viel gesehen und gelesen, mich mit komplexen Methoden auseinandergesetzt, etwa mit systemischem Denken und Verstehen, Disziplinen wie Komplexitätstheorie, Systemtheorie, Soziologie, Psychologie etc. Die Zukunft ist ja nie einfach, sie hat immer sehr viele Variablen.

Wie kann man sich die Arbeit eines Zukunftsforschers vorstellen?
Vielfältig und abwechslungsreich. Klassische Forschung, das Sammeln und Verarbeiten von Daten, qualitative und quantitative Auswertungen gehören genauso dazu wie das kluge und aufmerksame Beobachten seiner Umwelt und der Welt im Ganzen. Essenziell ist aber vor allem der Austausch mit den Vordenkern und Mind Changern im riesigen Netzwerk des Zukunftsinstituts. Nur so ist es möglich, Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und sie als Trends zu benennen. Unsere Wissensnetzwerke ermöglichen es uns, unterschiedliche Fragestellungen mit den richtigen Menschen bearbeiten zu können. Das ist die moderne Form der Zukunftsforschung, die sich vom Guru-Tool entfernt hat.

Welche Rolle spielt die Vergangenheit auf diesem Gebiet?
Sie ist wichtig, um Muster zu erkennen und daraus zu lernen. Die Welt verläuft in Zyklen, auch wenn wir oft dem Eindruck erliegen, es ginge immer linear vorwärts. Die Vergangenheit ist auch Teil der Zukunft, denn unser gegenwärtiges Denken basiert immer auf dem Wissen, den Erfahrungen und prägenden Momenten, die wir gesammelt haben. Wir müssen die Vergangenheit also einbeziehen, allerdings dürfen wir sie nicht verklären und sie zurücksehnen, wie es aktuell an vielen Ecken geschieht. „Früher war alles besser“ ist – betrachtet man die Datenlage – nicht nur eine falsche Aussage, sondern auch eine rückwärtsgewandte Denkweise, mit der man sich eigentlich für die Gestaltung der Zukunft disqualifiziert.

Welche Auswirkungen hat die Zukunftsforschung auf das Leben in der Gegenwart?
Zukunft bedeutet für viele Menschen und insbesondere für Unternehmer eine große Unsicherheit. Was wird kommen, wie wird es mich betreffen und gibt es überhaupt noch Chancen und Potenziale für mich? Unsere Zukunftsforschung nimmt diese Unsicherheit, indem sie Orientierung gibt und die richtigen Fragen stellt. Sie hilft dabei, hinter die Hypes zu blicken und sich mit den wirklich wichtigen Dingen für die eigene Zukunft zu befassen. Das ist die Grundlage, um heute clevere Entscheidungen für morgen zu treffen.

Welche Ergebnisse aus Ihrer vergangenen ­Forschungsarbeit sind heute Realität?
Wir haben vor einigen Jahren zur Überraschung vieler die Zunahme von Busreisen prognostiziert. Wir haben uns in der Zeit verschätzt, dachten, der Trend komme früher. Aber vom Prinzip her hatten wir recht. Oder denken Sie an den Megatrend Gender Shift. Wir haben schon 2015 in einer Trendstudie aufgezeigt, dass die Geschlechterverbindlichkeit und Rollenzuschreibungen kontinuierlich abnehmen. Damals haben das viele belächelt. Jetzt gibt es immer mehr, die sagen, was das Zukunftsinstitut bereits 2015 feststellte. Das gleiche war, als wir gesagt haben, dass Achtsamkeit kein wachsender sondern schon ein abflauender Trend ist. Aber klar, das ist natürlich auch das Wesen unserer Arbeit, dass wir früh etwas zum Thema machen, auch wenn dafür im breiten Mainstream noch kein Bedürfnis oder Verständnis da ist.

Das Zukunftsinstitut hat Anfang Dezember wieder einen neuen Zukunftsreport veröffentlicht. Welche zentralen Botschaften sind darin enthalten?
Der aktuelle Report handelt vor allem von Gegenbewegungen, Retro- und Rebellionstrends. Umso lauter der (mediale) Lärm unserer hektischen Zeit wird, umso mehr wächst die Sehnsucht der Menschen nach Stille. Das Co-Prinzip bäumt sich gegen den grassierenden Individualismus auf und radikale Ehrlichkeit stellt sich gegen die Fake-Welt. Wir beschäftigen uns darin auch damit, was nach dem Populismus und der Digitalisierung kommt. Ich versichere Ihnen: Die depressive Grundhaltung, die heute den öffentlichen Diskurs dominiert, ist unangebracht.

Was kann uns die Zukunftsforschung für das kommende­ Jahr mit auf den Weg geben?
Die Zukunft ist noch nicht gemacht. Auch wenn man manchmal den Eindruck hat. Keine Frage, autonomes Fahren, Klimawandel oder künstliche Intelligenz werden Teil unserer Zukunft sein. Aber: Was wann genau kommt und wie wir als Gesellschaft damit umgehen, ist auch für das Jahr 2019 noch sehr undeutlich. Was wir brauchen, ist Mut, sich der Zukunft in all ihrer Offenheit zu stellen. Lassen Sie sich nicht von Hypes und Buzzwords verunsichern, von diesem ganzen Marktgeschrei, das Information verheißt und oft nur bloßer Lärm ist. Viel wichtiger ist, den Mut zu haben, aus kluger Beobachtung eigene Schlüsse zu ziehen und sie konsequent zu verfolgen. (BO)