Agiles Management ist in aller Munde und hat in vielen Organisationen falsche Erwartungen geweckt. © Fotolia/ra2 studio
Agiles Arbeiten hat sich zu einem Buzzword entwickelt, das den Anschein macht, der Heilsbringer der Zukunft zu sein. Doch was sind die Vorteile agiler Organisationen? Ab wann ist meine Firma agil?
Und sind agile Methoden immer sinnvoll?
Jedes Unternehmen sollte es am Besten bereits seit gestern sein oder zumindest die Weichen in diese Richtung gestellt haben – agil! Ob als Form des Projektmanagements, als Führungsstil oder als Organisationsstruktur – Agilität scheint das Gebot der Stunde zu sein! Auch eine Studie des Personaldienstleisters Hays aus dem letzten Jahr stellte fest, dass die agile Organisation im Bewusstsein vieler Unternehmen eine hohe Bedeutung hat. Interessant ist: Je jünger die Befragten sind und je höher ihre hierarchische Position ist, als umso höher wird ihre Bedeutung angesehen. Im Laufe der nächsten drei Jahre soll ihr Stellenwert sogar auf 69 Prozent zunehmen. Dieser Hype hat aber auch seine Kehrseite: Viele Unternehmen fühlen sich unter Druck gesetzt und führen ein System ein, das für sie vielleicht gar nicht sinnvoll ist. NEW BUSINESS nimmt die agile Bewegung unter die Lupe.
Was genau ist eine agile Organisation?
Wenn ein Unternehmen agil ist, bedeutet das, dass das Management flexibel, proaktiv, antizipativ und initiativ agiert, um notwendige Veränderungen einzuführen. Das unterscheidet sie von den klassischen oder auch stabilen Organisationsstrukturen, die entweder prozessorientiert – wie etwa in der Automobilindustrie – oder projektorientiert – wie in der Bauindustrie – agieren. Auch Mischformen sind nicht selten. Auch die verstärkte Kollaboration mit dem Kunden steht im Mittelpunkt einer agilen Organisation, denn sie ermöglicht es Unternehmen, schnell und antizipativ auf Kundenwünsche zu reagieren sowie Kundenreaktionen schnell in Marktwissen zu transformieren. In Zeiten der Digitalisierung und Disruption kommt es immer schneller zu Veränderungen und einem turbulenten Umfeld. Unternehmen mit starrer Hiercharchie und allzu stabiler Struktur laufen Gefahr, mit diesem Wandel nicht mithalten zu können. Genau aus dieser Gefahr heraus ist das Prinzip der agilen Organisation auch entstanden. In der IT-Branche der 1990er-Jahre wurden die Projekte sehr schnell sehr komplex, die bisherigen Bewältigungsstrategien waren nicht mehr ausreichend. Man suchte nach Lösungen, die Anforderungen besser meistern zu können. 2001 dann die Verabschiedung des agilen Manifests – das agile Projektmanagement war geboren. Schnell weitete sich das Konzept von der Softwarebranche auf viele anderen Branchen aus. Leider auch auf Branchen und Unternehmen, die gar keine Notwendigkeit dafür haben.
Muss jeder agil werden?
In den letzten Jahren hatte Silvester Schmidt als Business-Coach die Gelegenheit, die Einführung agiler Organisationsformen bei einer Vielzahl von Unternehmen bzw. Unternehmensbereichen mehr oder weniger eng zu begleiten. Sein Eindruck: „Durch den agilen Hype der letzten Jahre fühlten und fühlen sich auch Unternehmen zur Einführung von ‚agil‘ gedrängt, für die das nur wenig Sinn machte oder die dafür noch nicht bereit waren oder sind.“ Schmidt berichtet von fehlgeschlagenen Versuchen einer agilen Organisationsentwicklung mit negativen Auswirkungen für die Unternehmen. „Einige ruderten dann auch wieder zurück und haben nun mit Verunsicherung und Unzufriedenheit in der Organisation zu kämpfen. Andere haben sich stabilisiert und heute eine Organisation, die zwar nicht agil ist, aber immerhin etwas besser funktioniert als vorher. Dafür haben sie aber viel Lehrgeld bezahlt“, erklärt er. Diese Entwicklung sei einerseits ganz typisch für einen Hype, andererseits aber auch eine Gefahr für den Ruf von Themen wie Agile Organisation und Agile Transformation. „Das Blöde ist, dass nun auch Unternehmen vor der Einführung agiler Arbeitsstrukturen zurückschrecken, die diese dringend bräuchten, um wettbewerbsfähig bleiben zu können“, befürchtet der Coach.
Wann ist die Einführung einer agilen Organisation sinnvoll?
Damit dies nicht passiert, sollte man sich als Unternehmen fragen, ob der zukünftige Markt tatsächlich von der Digitalisierung geprägt sein wird. Ist die Antwort nein, sollte man möglicherweise auch die Finger von einer Transformation lassen. Ist die Antwort ja, könnte die Einführung durchaus sinnvoll sein, rät Silvester Schmidt: „Agile Organisationen sind eine Reaktion auf die mit der Digitalisierung einhergehende Beschleunigung und zunehmende Komplexität von Abläufen in Unternehmen und Märkten. Das gilt sowohl für Dienstleistungsunternehmen und Unternehmen der ITK-Branche, als auch für solche mit Hardware- bzw. Mechatronikprodukten aus der Maschinen-, Elektrotechnik- oder Automobilindustrie.“ Komplexe Aufgabenstellungen, deren Lösungen nicht durch Nachdenken gefunden werden können, sind also ein gutes Indiz dafür, Agilität ins Unternehmen zu bringen. Denn hier kann man nur durch schrittweises Herantasten und durch die aus den in jedem Schritt gewonnenen Beobachtungen und Erfahrungen Neues über die Situation lernen. Sobald Aufgaben nur eher kompliziert oder gar einfach zu bewältigen sind, sei von der Einführung agiler Konzepte abzuraten. „Denn dafür existieren vertraute und bewährte Lösungen, die einem agilen Vorgehen in der Regel überlegen sind. Agile Konzepte stoßen dann auf keine Akzeptanz“, weiß Schmidt.
Was ist die Voraussetzung, um agil zu werden?
Die Grundvoraussetzung für Silvester Schmidt ist: Sie muss ihre klassisch-hierarchischen Strukturen bereits infrage stellen. „Organisationen unterliegen einer evolutionären Entwicklung. Die reine Hierarchie steht ziemlich am Anfang der evolutionären Entwicklung und die agile Organisation oder die Schwarmorganisation stehen weit hinten. Heute dominieren nach Funktionen bzw. Fachbereichen strukturierte Organisationen und bei größeren Unternehmen die Matrix-Organisation. Sie liegen zwischen den beiden erstgenannten Organisationsformen.“ Mit Matrixorganisation meint Schmidt eine mehrdimensionale Organisationsstruktur, bei der im Zuge der Bereichsbildung für sämtliche Teilhandlungen Entscheidungskompetenzen formuliert und auf Entscheidungseinheiten übertragen werden, die nur gemeinsam Beschlüsse fassen dürfen. Er betont auch, dass eine über viele Jahre gefestigte klassisch-hierarchische Organisation nicht im nächsten Schritt agil werden kann – hier braucht es also Entwicklung und Geduld.
Das agile Mindset
Für Management- und Karriereberaterin Svenja Hofert kann es für die Entwicklung zur agilen Organisation nur eine Grundvoraussetzung geben, und zwar ein agiles Mindset – also die Einstellung des Denkens, aus der heraus sich Handeln ableitet. Denn Werte und Prinzipien beeinflussen, wie wir Entscheidungen treffen und wie wir Arbeiten. Dass dieses Mindset die wenigstens Menschen haben, kritisiert Hofert: „Unser Bildungssystem ist überhaupt nicht darauf ausgerichtet. Wir produzieren immer noch vor allem Experten, keine agilen Freidenker. Hätten wir mehr Leute mit agilen Mindsets, würden wir die Digitalisierung leichter annehmen und in eine Richtung lenken, die der Menschheit dient.“ Auch sie versteht die agile Transformation ähnlich wie Silvester Schmidt als ganzheitliches Konzept und nicht als die bloße Einführung agiler Methoden wie Scrum oder Design Thinking. „Ich finde Methoden wichtig, aber ohne Mindset sind sie ein Bilderrahmen ohne Bild.“ Sie plädiert außerdem dafür, Führung nicht über Methoden und Masterpläne zu interpretieren sondern über das, was uns von künstlicher Intelligenz unterscheidet: „Alles, was mit Menschlichkeit zu tun hat, vor allem Empathie.“ Es ist also wichtig, dass die Führungskräfte ein agiles Mindset haben, selbstreflektiert und weitsichtig sind, ohne die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Von ihnen muss der Kulturwandel Richtung Agilität ausgehen. „Der erste Tipp ist deshalb an CEOs gerichtet oder jene, die Entscheidungen treffen: Schauen Sie, ob die richtigen Leute an den richtigen Hebeln sitzen. Unternehmen funktionieren über soziale Anpassung“, erklärt Hofert. „Man braucht keine ausführlichen Konzepte, keine langen Analysen – das machen Computer vielfach besser – und erst recht keine Best Practice, sondern Mut und Menschlichkeit.“
Die Angst vor agilen Strukturen und andere Stolpersteine
Für Svenja Hofert geht es bei Agilität um das Sich-Einlassen auf Unplanbarkeit. Etwas zu machen, ohne das Ergebnis vorhersehen und berechnen zu können. Um Experimentieren, Ausprobieren. Ihrer Erfahrung nach haben obere Führungskräfte, Vorstände und Geschäftsführer da weniger Berührungsängste, weil sie wüssten, dass irgendetwas entscheiden oft besser ist, als gar nichts zu tun. „Es sind die mittleren Führungskräfte, die Abteilungsleiter und Bereichsleiter, die oft hemmen“, plaudert sie aus dem Nähkästchen. „Deren Angst ist auch die vor Machtverlust, und aus Sicht der hierarchischen Pfründeverteilung ist diese Angst auch voll berechtigt. Solche Führungskräfte braucht man in dieser Form wirklich nicht mehr.“ Interessant findet die Managementberaterin, dass sie vielen Führungskräften begegnet, die denken, modernen Werten zu folgen, sich dabei jedoch in Widersprüchen verlieren. „Solche Führungskräfte senden allerlei Doppelbotschaften. Das merken die meisten gar nicht.“
In der agilen Transformation kann also viel schiefgehen, wenn das Konzept nicht von der Führungsebene aus verinnerlicht und eine agile Haltung vermittelt wird. Wenn Sie daran interessiert sind, wie ein Projekt mächtig in die Hose gehen kann, wenn es mit einer bloßen Einführung einer agilen Methode durchgeführt wird, das agile Mindset dahinter jedoch fehlt, lege ich Ihnen – wie sowieso in jeder Ausgabe – die Kolumne des NEW BUSINESS Haus- und Hof-Coaches Dr. Hannes Sonnberger auf Seite 50 ans Herz. (VM)