Mit Ambidextrie zum Erfolg.

NEW BUSINESS - NR. 7, SEPTEMBER 2020
Unter weiblichen Führungskräften ist die Zustimmung zur Ambidextrie größer als unter männlichen. © jannoon028/Freepik

Agilität und Hierarchie: Der Großteil der Führungskräfte traut sich einen „beidhändigen“ Führungsstil zu und könnte damit die Balance zwischen Effizienz und Innovation schaffen.

Jede fünfte Führungskraft hat durch die COVID-19- Krise ihren Führungsstil verändert. In der IT- und Telekom-Branche war es mit 24 % besonders signifikant. In welche Richtung die Reise geht, analysierte der Hernstein Management Report, der seit über 20 Jahren ein jährliches Stimmungsbild unter Führungskräften und Unternehmern in Österreich und Deutschland erhebt.

Wirtschaftlichkeit eher durch hierarchische Struktur?
Der Trend geht laut Hernstein ganz klar in Richtung Agilität, die auf die Selbstorganisation der Mitarbeitenden vertraut. 49 % dieser Führungskräfte lebten diesen Stil ihrer Aussage nach bereits vor der Krise, danach waren es mit 52 % noch mehr. In den nächsten drei Jahren dürfte sich dieser Trend weiter verstärken: 65 % der Führungskräfte meinen, dass dann ein agiler Führungsstil in ihren Unternehmen gefragt sein wird. Demgegenüber stehen Vertriebsverantwortliche, die einen leichten Rückgang von 60 % auf 58 % erwarten. Dabei werden im Hinblick auf das Erreichen der Unternehmensziele die Vorteile eines hierarchischen Stils durchaus geschätzt: 65 % sind der Meinung, dass das Ziel Wirtschaftlichkeit eher damit erreicht wird. Ein Weg, um die unterschiedlichen Stile zu kombinieren, könnte Ambidextrie sein – ein sogenannter „beidhändiger“ Führungsstil, der sich durch den Wechsel zwischen einem hierarchischen und einem agilen Stil auszeichnet. Dieser wird von 69 % befürwortet und 64 % sehen ihn in der Praxis als umsetzbar an.
Michaela Kreitmayer, Leiterin Hernstein Institut für Management und Leadership, kommentiert die Studienergebnisse so: „Mit einem beidhändigen Führungsstil lassen sich unterschiedliche strategische Schwerpunkte vereinen. Als Führungskraft gilt es, zwischen der Optimierung von Stabilität sowie Effizienz einerseits und der Flexibilität sowie dem Entdecken von Neuem andererseits die Balance zu finden. Dies stellt hohe Ansprüche an die fachliche und persönlichkeitsbezogene Qualifikation von Führungskräften und Mitarbeitenden.“ Ergänzend fügt sie hinzu: „Die sinnstiftende Verwirklichung von Ambidextrie ist vor allem eine Frage der Routine. Ein Fünftel der Führungskräfte hält „Beidhändigkeit„ dann für lebbar, wenn entsprechende Erfahrung gegeben ist. Denn diese sorgt für Entscheidungssicherheit, die bei einem derartig flexiblen Konzept besonders wichtig ist.“

Sechs von zehn Führungskräften vertrauen auf agile Selbstorganisation
60 % der österreichischen und deutschen Führungskräfte wenden heute einen agilen Führungsstil an. Weibliche Führungskräfte (63 %) setzen ein wenig mehr darauf als ihre männlichen Kollegen (58 %). Ebenso überdurchschnittlich Agilitäts-orientiert sind österreichische Führungskräfte unter 40 Jahren (63 %), Führungskräfte in Großbetrieben mit über 5.000 Beschäftigten (62 %) sowie – besonders stark – die IT- und Telekom-Branche mit 69 %. Interessant: Mit fortdauernder Führungspraxis scheint das Vertrauen in die agile Organisation etwas abzunehmen. Während Führungskräfte mit drei Jahren Erfahrung zu 63 % darauf vertrauen, sind es bei solchen mit über zehn Jahren Führungspraxis 59 %.

3-Jahres-Trend: Agiler Führungsstil nimmt weiter an Bedeutung zu
In drei Jahren sehen 65 % der Führungskräfte einen agilen Stil in ihrem Unternehmen als tonangebend an. Dies entspricht einer Steigerung von 5 % gegenüber heute. Bemerkenswert ist, dass sich der Anteil jener Führungskräfte, die eine uneingeschränkte Verwirklichung des agilen Ansatzes kommen sehen, von derzeit 6 auf 13 % mehr als verdoppelt. Das stärkere Vertrauen von Frauen in Agilität bleibt bestehen. Während 67 % der weiblichen Führungskräfte meinen, dass in den kommenden drei Jahren ein agiler Führungsstil gefragt sein wird, sind es unter ihren männlichen Kollegen 58 %. Nach Aufgabenbereichen zeigt sich eine interessante Differenzierung: Führungskräfte mit kaufmännisch-administrativer Verantwortung sehen zu 68 % einen Bedeutungszuwachs von Agilität. Hingegen erwarten Vertriebs-Verantwortliche in drei Jahren sogar einen leichten Rückgang, von heute 60 % auf 58 %.

COVID-19 hinterlässt auch in der Unternehmensführung Spuren
19 % der Führungskräfte haben ihren Führungsstil aufgrund von COVID-19 in Richtung mehr Agilität geändert. Allein der häufig sehr kurzfristig umzusetzende, großflächige Einsatz von Homeoffice hat hohe Anforderungen an die Unternehmensführung gestellt. Dabei fällt auf, dass mehr Führungskräfte unter 40 Jahren ihren Stil geändert haben als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen – wobei das in Deutschland noch ausgeprägter ist als in Österreich (Deutsche Führungskräfte unter 40 Jahre: 24 %; ab 40 Jahren: 15 %). Unter den Führungsebenen sticht das obere Management hervor, dessen Vertreter zu 29 % ihren Stil geändert haben. Im unteren Management waren es mit 18 % deutlich weniger. Nach Branchen ist es der IT- und Telekom-Sektor, der die stärksten Anpassungen zeigt: 24 % veränderten ihr Führungsverhalten, gefolgt vom Handel mit 22 %.

Führungskräfte schätzen die ­Effektivität von Hierarchien
Die österreichischen und deutschen Führungskräfte geben an, dass sieben von zehn Unternehmensziele eher über hierarchische Strukturen erreicht werden als über agile. Dabei gibt es bei sechs der sieben Ziele nur einen geringen Überhang zugunsten des hierarchischen Stils. Im Einzelnen:
• Bei Wirtschaftlichkeit gibt es ein klares Votum zugunsten des hierarchischen Konzepts (65 %).
• Bei den Zielen Qualität, Effizienz, Image, Zukunftssicherheit, Kundenorientierung und Konkurrenzfähigkeit ist eine Mehrheit für den hierarchischen Stil, die jeweils im Bereich von 51 bis 56 % liegt.
• Die Zufriedenheit von Mitarbeitenden wird laut befragten Führungskräften klar über einen agilen Stil erreicht (64 %); ebenso Innovationsfähigkeit (60 %) und mit etwas geringerer Mehrheit auch Diversität (56 %).
Ein Weg, um die unterschiedlichen Ziele zu kombinieren, könnte Ambidextrie sein – der „beidhändige“ Führungsstil.

Pro Ambidextrie: Führungskräfte sehen diesen Führungsstil als sinnvoll und machbar
69 % der Befragten halten es für sinnvoll, den Führungsstil je nach Situation zwischen hierarchisch und agil zu variieren. Dieses beidhändige Führungskonzept der Ambidextrie halten 64 % in der Praxis für anwendbar. Unter weiblichen Führungskräften ist die Zustimmung zur Ambidextrie größer als unter männlichen (72 % versus 67 %). Dafür sind Männer optimistischer, was die Umsetzbarkeit anbelangt (66 % versus 62 %). Besonders starke Verbreitung findet der beidhändige Führungsstil unter Inhaberinnen und Inhabern. Hier meinen jeweils 72 % sowohl, dass dieser Ansatz sinnvoll sei, als auch, dass dieser im Unternehmensalltag gelebt werden könne. Dazu passt, dass Ambidextrie eher in Kleinunternehmen als machbar angesehen wird. Unter den Führungskräften in Unternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten sind es 66 %, die Beidhändigkeit für umsetzbar halten, unter jenen von Unternehmen mit über 5.000 Beschäftigten sind es 60 %. (VM)

INFO-BOX
Was bedeutet (organisationale) ­Ambidextrie?
Ambidextrie bedeutet übersetzt Beid­händigkeit. Im Kontext von Organisationen bezeichnet Ambidextrie die Fähigkeit, gleichzeitig Raum für Innovationen zu schaffen und vorhandene Prozesse ­effizient umzusetzen.

Ein beidhändiges Unternehmen vereint zwei völlig verschiedene Arbeitsweisen unter einem Dach: einmal das fehlervermeidende prozess- und effizienzorientierte Umsetzen auf bekanntem Terrain ­(exploit) und auf der anderen Seite das risikoaffine, explorative Ausprobieren von Neuem (explore). Bei explore ist es z. B. wichtig, zu frühes kritisches Denken und den Blick für Fehler zu unterdrücken, was bei exploit ein elementarer Bestandteil der Haltung und des Denkens ist.
(Quelle: New Work Glossar)