Was unterschiedliche Branchen voneinander lernen können.

NEW BUSINESS - NR. 8, OKTOBER 2020
Die Interim Manager Siegfried Lettmann und Peter Kuhle haben branchenübergreifende Ressourcen identifiziert, die für Wettbewerbsvorteile sorgen können. © Gerd Altmann/Pixabay

Jedes Unternehmen ist individuell. Dennoch gibt es branchenübergreifende Fragestellungen. Wer obenauf bleiben will, sollte daher lernen, über den eigenen Tellerrand zu schauen.

Unsere Wirtschaft hat sich vielerorts in einen jeweils branchenspezifischen Wahrnehmungstunnel entwickelt. Es beginnt schon bei der Personalsuche, die ein starkes Gewicht auf spezifische Branchenerfahrung legt, dabei aber niemals klärt, ob diese für die intendierte Position wirklich so wichtig ist. Je nach Anforderung könnte etwa Veränderungserfahrung manchmal bedeutender sein.
Das betrifft auch die Lösungssuche für bestimmte Herausforderungen. Häufig schielt man zuerst auf die direkte Konkurrenz – die ist es ja, die man überflügeln möchte. Die volle Konzentration liegt dann darauf, es „besser“ zu machen, nicht aber „anders“. Nach jahrelanger Iteration hat man sich letztlich und unmerklich ein strategisches Korsett geschnürt, das auf den Wettbewerb abzielt, und nicht mehr auf die Kunden. Die Nebenwirkungen dieses Korsetts: Die Entwicklungskosten steigen durch die wachsende Komplexität der Weiterentwicklungen – es entsteht aber kein ausreichend differenziertes Wertangebot.
Eine lohnende Alternative kann es deshalb sein, sich von Unternehmen inspirieren zu lassen, die zwar in anderen Branchen verortet sind, dabei aber vergleichbare Herausforderungen bearbeiten.

Unterschiedliche Branchen, ähnliche Herausforderungen
Schon die Digitalisierung zeigte sehr gut: Einige Herausforderungen ähneln einander durch unterschiedliche Wirtschaftszweige hindurch. Etwa die steigende Marktmacht der Endkunden gegenüber Herstellern – und damit die Notwendigkeit ganzheitlicher Angebote, eines veränderten Marketings oder neuer Vertriebswege wie Direktvertrieb oder digitale Vertriebskanäle. Das gilt für die Bauzulieferindustrie ebenso wie für einen Sportartikelhersteller. Wer nicht auf den eigenen Wettbewerb schielt, sondern auf funktional vergleichbare Problemstellungen, findet einen wesentlich umfangreicheren Pool an Lösungsmöglichkeiten.
Corona zeigt, dass diese Ähnlichkeiten beispielsweise auch die interne Organisation betreffen. Themen rund um New Work sind in aller Munde, auch hier in ähnlicher Form in sehr unähnlichen Wirtschaftszweigen. Das Hearts Hotel hat mit einem kürzlichen Veränderungsprojekt Interim Manager aus gänzlich anderen Wirtschaftszweigen betraut – mit Erfolg. Funktioniert hat das, weil die Herausforderungen des Hotels mit jenen etwa aus dem Maschinenbau vergleichbar waren: Wie funktionieren soziale Systeme unter Corona-Einschränkungen?

Voneinander Lernen lernen
Es ist also sinnvoll, nicht nur interdisziplinär, sondern auch über Branchengrenzen hinaus nach zugkräftigen Lösungen zu suchen. Aber wie?
Zuerst, indem man die eigene Wertschöpfung mehr in Funktionen, wie etwa Vertrieb und Service, betrachtet – und miteinander verwebt, weil „Abteilungen“ zuweilen genau das tun: sich abteilen. Themen wie eine effiziente Aussteuerung der Servicebereiche in zunehmend komplexeren Kontexten oder die Erschließung neuer Vertriebskanäle spielen in den meisten Branchen entscheidende Rollen – manchmal relativ unabhängig von den Angeboten selbst. Typische branchenübergreifende Fragestellungen betreffen die Art und Weise, wie Unternehmen Cross- und Upselling betreiben, wie führende Onlineanbieter ihre Kunden ansprechen und bedienen und einiges mehr. Vieles basiert auf neuen Kernkompetenzen, die sich Unternehmen oft erst noch aneignen müssen, wie z. B. SEO, (Big) Data und predictive Analytics – „Kompetenz“ meint hier, dass die Tätigkeiten selbst erledigt werden können, nicht die „Koordinationskompetenz“ mit externen Dienstleistern.
Auch eine gewisse Abstraktion kann zielführend sein. Die Ausgangspunkte: Die verfügbaren Kompetenzen und die Anforderungen der Kunden – ohne die Branche oder dort bereits bestehende Lösungen zu fokussieren. Das betrifft etwa auch Innovationsbemühungen: Methoden wie die „Jobs-to-be-done-Analyse (ODI)“ oder agile Entwicklungsmethoden helfen, gewisse Funktionen branchenunabhängig zu analysieren und zu abstrahieren.

Mit Wissen umgehen
Viele der im Kontext wichtigen Themen haben also damit zu tun, wie man überhaupt an Wissen kommt und wie man es organisiert, priorisiert und transferiert. Moderne Vernetzungsmöglichkeiten machen vieles einfacher. Lernen kann man das etwa vom niederländischen Pflegedienstleister Buurtzorg, der über 7.000 Mitarbeitende effektiv vernetzt und es mit einem internen sozialen Netzwerk schafft, dass räumlich verstreute Arbeitskräfte dennoch über ein gemeinsames Expertenwissen verfügen.
Apropos „Expertenwissen“: Wie beim Hearts Hotel kann es Sinn machen, hier auf Funktionsexperten als „Knowledge Brokers“ zu setzen. Das sind Spezialisten für bestimmte Themenbereiche, die nicht innerhalb einer bestimmten Branche arbeiten, sondern deren Wert gerade darin liegt, dass sie ähnliche Themen und Herausforderungen in unterschiedlichen Branchen kennen. Das können Forschungseinrichtungen sein, andere Unternehmen oder auch Interim Manager. Das moderne Zeitalter ist ein Zeitalter der Kooperation.

Wissenstransfer
Abgesehen von der Entdeckung und Organisation des Wissens sollte dabei immer ein Augenmerk auf dem eigentlichen Transfer von Wissen liegen. Man sollte nicht davon ausgehen, dass der sozusagen automatisch erfolgt. Wissens­transfer braucht einen strukturierten Plan. Wissenslandkarten und dergleichen können dabei wertvoll sein. Der Transfer von Wissen ist immer schon ein wichtiger Faktor gewesen, wird oft aber zu wenig beachtet. Vor allem in veränderungsintensiven Phasen sind effektive Prozesse entscheidend.
Das hat letztlich sehr viel mit der Unternehmenskultur zu tun. Buurtzorg funktioniert nicht aufgrund des digitalen Netzes so gut, sondern weil eine gegenseitige Kultur des Vertrauens und des Austausches herrscht. Auch das kann auf nahezu alle Branchen angewendet werden: Im Mittelpunkt stehen immer Menschen und ihre Organisation. Offenheit, Freiräume für Kreativität und das richtige Mindset sind oft entscheidender als jahrelange Branchenerfahrung. (SL & PK)

DIE AUTOREN
Siegfried Lettmann
Der Executive Interim Manager Siegfried Lettmann ist spezialisiert auf die (digitale) Transformation in Vertrieb und Marketing. Bei seinen Mandaten fungiert er als Leiter in den Bereichen Vertrieb, Marketing und Produktmanagement oder übernimmt auf Zeit die Unternehmensführung. Für seine Arbeit wurde der erfahrene Interim Manager bereits mehrmals ausgezeichnet – er ist fünffacher Constantinus-Preisträger, Interim Manager des Jahres, Träger des Interim Management Excellence Awards und Innovator des Jahres 2020. An der European Business School ist er auch Studienleiter des Interim Executives Programme, der einzigen universitären Weiterbildung für Interim Manager im deutschen Sprachraum.
www.lettmann-interim.com

Peter Kuhle
Peter Kuhle ist Interim Manager und ­Berater aus Bad Honnef. Er begleitet Unternehmen in erfolgskritischen Phasen von Wachstum und Wandel. Dabei blickt er auf langjährige Erfahrung in Sales & Service, Transformation & Effizienz und diversen Managementfunktionen bei namhaften Unternehmen aus Konzernen und Mittelstand zurück. Seine Spezialitäten sind Vertrieb, Direktvertrieb, After Sales, Service und technischer Kundendienst. Er ist Preisträger des „Interim Management Excellence Awards“. Über seine Erfahrung schreibt er in diversen Wirtschaftsmedien.
www.peterkuhle.com