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Coming Home

NEW BUSINESS Export - NB EXPORT 2/2018
„Made in China“ ist seit vielen Jahren in vielen Kleidungsstücken der westlichen Welt zu lesen. Doch das ändert sich gerade. © Pixabay

Individuelle Produkte, kundenorientierte Services, kurze Lieferzeiten, effiziente Fertigung u. v. m. Die steigenden Anforderungen der globalisierten Wirtschaft ...

... sowie der verstärkte Einsatz von Industrie-4.0-Technologien sorgen für einen neuen Trend: ­Nearshoring. Viele Unternehmen aus Industrienationen verlagern dabei ihre Produktion wieder vermehrt in die Nähe ihrer Absatzmärkte. Ein Einblick in die Zukunft der globalen Wertschöpfung.

Die Verlagerung der Produktion ins Ausland war während der letzten 20 Jahre eine wichtige Strategie vieler Industrieunternehmen. Automatisierung und Industrie 4.0 könnten diesem Trend jedoch ein Ende ­setzen. Unternehmen, welche die Produktion ins Ausland verlagert haben, verloren durch längere Transportwege und höheren Koordinationsbedarf oft an Flexibilität und Lieferfähigkeit. Rückverlagerungen können den Firmen helfen, diese Flexibilität zurückzugewinnen und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.

Industrie 4.0 ermöglicht ­Rückverlagerungen
In einer Studie für das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (bmvit) untersuchte das AIT Rückverlagerungen in Österreich, Deutschland und der Schweiz mit quantitativen Daten aus einer Unternehmensumfrage. Dabei zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Industrie-4.0-Technologien wie Industrierobotern, Produktionsplanungs­systemen oder Cyber-Physical Systems und beobachteten Rückverlagerungen.
Bernhard Dachs, Senior Scientist am AIT Center for Innovation Systems & Policy: „Wir erklären diesen Zusammenhang mit zwei potenziellen ­Effekten von Industrie 4.0: Einerseits kann Industrie 4.0 die Produktivität von Unternehmen wesentlich erhöhen. Andererseits erlaubt Indus­trie 4.0 einen hohen Grad an Flexibilität, idealerweise die Herstellung individueller Produkte mit den Kostenvorteilen einer Großserienproduk­tion.“ Trotz dieser erfreulichen Ergebnisse sei es noch zu früh, um sich von Rückverlagerungen wesentliche Impulse für den Wirtschaftsstandort zu erwarten. Derzeit ist der Anteil von rückverlagernden Firmen mit fünf bis sechs Prozent noch gering. Aufgrund der zunehmenden Verbreitung von Industrie 4.0 und steigenden Anforderungen an die Flexibilität und Lieferfähigkeit der Firmen wird für die Zukunft allerdings eine deutliche Zunahme von Rückverlagerungen erwartet. Außerdem ist nicht jede Auslagerung notwendigerweise ein Nachteil für den Standort; wenn Unternehmen im Ausland expandieren, können durch stärkere interne Nachfrage auch Produktionsschritte in Österreich profitieren.

Kommen mit Rück­verlagerungen auch ­Arbeitsplätze zurück?
Ob mit Rückverlagerungen auch Arbeitsplätze, die in den letzten Jahren durch Auslagerungen verloren gingen, wieder zurückkommen werden, ist unsicher. Die Beschäftigungs­effekte von Rückverlagerungen werden aufgrund des hohen Automatisierungsgrads vielfach nur gering sein, meint Studienautor Bernhard Dachs: „Von Rückverlagerungen werden vor allem hoch qualifizierte Beschäftigte profitieren; Arbeitsplätze für Geringqualifizierte, die durch Auslagerungen verloren gingen, werden nicht wieder zurückkommen.“

Modeproduktion kehrt vermehrt nach Europa zurück
Die niedrigeren Löhne machten China und Südostasien konkurrenzlos für die Modeproduktion. Laut einer aktuellen Studie von McKinsey & Company beginnt sich aber auch dieses Blatt langsam zu wenden. Eine Jean, die in der Türkei produziert wird, kostet heute drei Prozent weniger als in China, zählt man Fertigungs-, Transport- und Einfuhrkosten zusammen. Ähnliches gilt für den nordamerikanischen Markt. Eine Jean aus Mexiko hat sogar um zwölf Prozent niedrigere Gesamtkosten. „Für einzelne Kleidungsstücke mit wenig aufwendiger Produktion lohnt sich jetzt schon die Rückverlagerung der Fertigung nach Europa bzw. Nordamerika. Aber der Hauptgrund für das Nearshoring in der Modewelt ist die extreme Verkürzung der Lieferzeiten, die es Unternehmen ermöglicht, viel schneller auf Trends zu reagieren und Kollektionen agil anzupassen“, sagt Karl-Hendrik Magnus, Partner und Experte für die Modebranche bei McKinsey. Ein Kleidungsstück aus Südostasien ist bis zu 30 Tage mit dem Schiff unterwegs in westliche Märkte – der Transport aus der Türkei nach Deutschland dauert hingegen nur drei bis sechs Tage. Den Weg von Mexiko in die USA finden die Stücke sogar in nur zwei Tagen.

Konsumentenwünsche: Schnell ist nicht schnell genug
„Schnelle Reaktionszeiten sind ein Muss, um konkurrenzfähig zu bleiben. Die Zeiten, in denen Konsumenten ein halbes Jahr auf angesagte Kleidungsstücke warteten, sind längst vorbei. Heute brauchen Modeunternehmen agile Strukturen, um Trends, die bei Instagram entstehen, nicht zu verpassen und Warenüberhänge zu vermeiden“, sagt Achim Berg, Leiter der Modeindustrieberatung bei McKinsey. Ein weiterer Vorteil von Nearshoring: Mehr Mode kann zum vollen Preis ohne Rabattaktionen verkauft werden, da trendige Stücke schneller verfügbar sind. Der Anteil der Ware, der zum vollen Preis an die Kunden geht, erhöht sich dadurch um fünf Prozentpunkte. Mehr als drei Viertel der befragten Experten glauben, dass ein Umschwung zum Nearshoring wegen kürzerer Lieferzeiten bis 2025 wahrscheinlich ist.

Automatisierung: eine Chance für mehr Nachhaltigkeit
Ein weiterer Schub für das Nearshoring geht auch in der Modebranche von der Automatisierung aus, da sie die Produktivität erhöht. Noch hinkt die Bekleidungsindustrie aufgrund der arbeitsintensiven und schwierig automatisier­baren Näharbeiten anderen Branchen zwar hinterher, doch inzwischen sind einige Technologien marktreif, beispielsweise Roboter und Lasertechnologien zur Bearbeitung von Jeans. In den nächsten zehn Jahren könnten 40 Prozent (für komplizierte Kleidung) bis 70 Prozent (für simple ­Stücke) der Arbeitszeit durch Automatisierung eingespart werden und damit auch ein bedeutender Teil der Kosten. Das Herstellen einer einfachen Jean könnte statt derzeit 36 Minuten nur noch elf Minuten dauern.
Ein weiterer Vorteil der Automatisierung im Near­shoring: Sie macht die Produktion nachhaltiger, weil weniger Ressourcen verschwendet werden. „Automatisierung geht einher mit weniger Wasserverbrauch, Energie- und Chemikalieneinsatz. Nearshoring reduziert Transportwege und damit Umweltverschmutzung. Außerdem ermöglicht Nearshoring mehr On-demand-Produktion, was weniger Bekleidungsmüll zur Folge hat“, erklärt Saskia Hedrich, Co-Autorin des Reports. Eine Entwicklung, die auch den Konsumenten gefallen könnte: Mehr als zwei Drittel der befragten Industrieexperten glauben, dass 2025 Nachhaltigkeit ein Hauptgrund für Modekunden sein wird, ein Produkt zu kaufen.

Die Zukunft ist multilokal
In den letzten zehn Jahren war die Globalisierung zunehmendem Druck ausgesetzt. Eine Vielzahl wirtschaftlicher, politischer, sozialer und technologischer Kräfte bremst das Wachstum der Globalisierung und führt zu einem Zeitalter des Multilokalismus – einer Zeit, in der lokale Gemeinschaften, Branchen, Produkte, Kulturen und Gebräuche wieder vermehrt an Bedeutung gewinnen. „Die Gesetze der Globalisierung gelten nicht mehr wie gehabt. Zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit braucht es in Unternehmen einen Sinneswandel hin zu lokal integrierten Einheiten. Dabei gehen die Anforderungen weit über die Dezentralisierung von Produktion und Marketing hinaus“, sagt Martin Eisenhut, Zentraleuropa-Chef der internationalen Top-Managementberatung A.T. Kearney. „In Zukunft werden Größenvorteile, Effizienzsteigerung und weltweit integrierte Wertschöpfungsketten allein nicht mehr ­reichen, um relevant wachsen zu können.“
Eisenhut beruft sich auf die jüngste Veröffentlichung des Global Business Policy Councils von A.T. Kearney „Competing in an Age of Multi-Localism“. Der umfangreiche Bericht untersucht weltweit das Erstarken von Antigloba­lisierungstrends im Zusammenspiel mit neuen Techno­logien und veränderten Kundenbedürfnissen und zeigt ­Konsequenzen für die Wettbewerbsfähigkeit großer Unternehmen auf.
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der Trend zur stärkeren Regionalisierung kein kurzlebiges Modephänomen ist, sondern als Zeitalter der sogenannten Multilokalisierung die Globalisierung ablösen wird. Als wesentliche Treiber nennen sie steigende politische Risiken, neue ­Konsumentenbedürfnisse, die sich von globalen Marken ab- und regionalen, authentischen Angeboten zuwenden, veränderte Industriepolitik und technologische Fortschritte wie Robotics und 3D-Druck.
Zusammengenommen und in ihren Wechselwirkungen analysiert entsteht das Gesamtbild einer multilokalen Welt und damit eines gänzlich veränderten Wirtschaftsumfelds. Zukünftig gelten die Präferenzen nicht mehr weltweiten, sondern den lokalen Gemeinschaften, Industrien, Produkten und Kulturen vor Ort mit ihren authentischen und ­spezifischen Unterschieden.
Wettbewerbsfähig, so folgern die Autoren, sind in Zukunft nur noch Konzerne, die es schaffen, sich in verschiedenen Regionen und Märkten als lokal integrierte Einheiten zu behaupten. Die notwendige Dezentralisierung ist dabei nicht nur auf bestimmte Funktionen beschränkt, sondern muss das gesamte Geschäftsmodell umfassen.
Der Bericht empfiehlt den Unternehmen, zwei grund­legende Verschiebungen in ihren Strategien vorzunehmen: Erstens gilt es, die weltweiten Abläufe und Wertschöpfungsketten für die Kernmärkte neu auszurichten. Besonderes Augenmerk verlangt die Interaktion von technolo­gischen Entwicklungen wie Robotics oder additiven Fertigungsverfahren mit lokalen Faktoren wie Industriepolitik und Handelsschranken.
Zweitens müssten alle Sinne für die Wahrnehmung der lokalen Besonderheiten geschärft werden. Das heißt, Führungskräfte müssen lernen, schneller und effektiver lokale Gesamtstrategien zu entwickeln, umzusetzen und bei ­Bedarf anzupassen, während die Unternehmen Wissen und Einblicke entwickeln müssen, die auf ihre lokalen Märkte zugeschnitten sind. (BO)