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Experten fallen nicht vom Himmel!
»Möglicherweise müssen wir aber vom Himmel fallen,
weil es in Anbetracht der Dynamik gar keine andere
Möglichkeit gibt, als Experte überhaupt wahrgenommen
Christoph Zulehner
OKTOBER 2018 | NEW BUSINESS 43
gurus, Modezaren, Literaturpäpste,
Hunde üsterer, Hack-Cracks oder Gaming
Großmeister.
Warum das so ist, lässt sich einfach erklären:
Unser Wissen wächst exponentiell.
Das bedeutet eine Verdoppelung
alle ein bis drei Jahre, je nach Branche
und Erhebungsmethodik. Und damit
haben wir unsere liebe Not. Denn wir
können als Menschen unser Wissen nicht
in der Geschwindigkeit wachsen lassen,
wie dies der Markt von uns verlangt.
Aber der Homo sapiens ist er nderisch
und hat einen Weg gefunden, mit dieser
Entwicklung zurande zu kommen: Spezialisierung.
Die Zeit der Allrounder ist vorbei
Wer glaubt, damit reüssieren zu können,
sich überall auszukennen, hat die Mechanismen
nicht verstanden. Spezialisten
sind gefragt. Mehr denn je und
schneller denn je. Taucht ein Thema auf,
braucht es rasch die dazu notwendige
Expertise.
Wir alle sind von diesem Phänomen
betroffen. Das beginnt beim Einstieg in
das Berufsleben, setzt sich fort beim
Anlauf zum nächsten Karrieresprung
und macht auch vor unserem Privatleben
nicht halt. Aber was tun, wenn Expertisen
gefragt sind, auf die wir nicht vorbereitet
sind? Auf die wir uns gar nicht
vorbereiten können? Dann gilt, was
Adam Grant, US-amerikanischer Organisationspsychologe,
in einem Gastbeitrag
in der New York Times emp ehlt:
„Seien Sie Sie selbst, ist ein schlechter
Ratschlag, wenn Sie nicht gerade Oprah
Winfrey sind!“
„Experten fallen nicht vom Himmel!“,
wird uns immer wieder weisgemacht.
Möglicherweise müssen wir aber vom
Himmel fallen, weil es in Anbetracht der
Dynamik gar keine andere Möglichkeit
gibt, als Experte überhaupt wahrgenommen
zu werden. Es ist nicht mehr möglich,
„breit aufgestellt“ zu sein. Die Entwicklung
zwingt uns dazu, uns zu fokussieren.
Aber wie werden wir Experten?
Und vor allem, wann werden wir
Experten? Und wie werden wir als Experten
sichtbar?
Betrug oder Notwendigkeit?
Spezialisten haben einen Auftrag. Sie
müssen aber manchmal ihrer Zeit voraus
sein und die Ausübung ihrer Funktion
auch nutzen, um zu lernen. Wir alle waren
schon in solchen Situationen. Die
Bekenntnisse dazu sind bunt: „Bevor
mein Chef merkt, was ich alles nicht kann,
bin ich eingearbeitet.“ Oder wie es einer
meiner Hochschulprofessoren einmal
formulierte: „Wenn ich mich wo nicht
auskenne, schreibe ich ein Buch drüber!“
Vom Himmel fallen ist kein Betrug. Vom
Himmel fallen ist eine Notwendigkeit,
um in der Welt des Wissens bestehen zu
können. Dazu gibt es ganz wunderbare
historische Belege: zum Beispiel im Buch
„Die Welt von gestern“, der Autobiogra-
e von Stefan Zweig. Ein Werk, das einen
literarisch eindringlichen, fesselnden
und persönlichen Blick auf die Kultur
des alten Europa wirft, geschrieben zwischen
1939 und 1941: „Vierundzwanzig-
oder fünfundzwanzigjährige junge Ärzte,
die eben das medizinische Examen
absolviert hatten, trugen mächtige Bärte
und setzten sich, auch wenn es ihre Augen
gar nicht nötig hatten, goldene Brillen
zu werden.«
auf. Nur damit sie bei ihren ersten
Patienten den Eindruck der Erfahrenheit
erwecken könnten. Man legte sich lange
schwarze Gehröcke zu und einen gemächlichen
Gang und wenn möglich ein
leichtes Embonpoint Körperfülle, dicker
Bauch, um diese erstrebenswerte Gesetztheit
zu verkörpern. Und wer ehrgeizig
war, mühte sich, dem der Unsoli-